«Noch nie habe ich erlebt, dass die Zuwanderung von rechts bis links so stark unter Druck kommt», sagt Politgeograf Michael Hermann, «und es scheint, als habe niemand mehr einen Plan».
Tatsächlich scheint zurzeit auf breiter Front ein Umdenken stattzufinden.
Jahrelange Gewissheiten werden infrage gestellt
Als Speerspitze der Wirtschaft beschränkte sich der Wirtschaftsverband Economiesuisse über Jahre darauf, die Vorteile der Zuwanderung als unabdingbare Voraussetzung für den Wohlstand zu betonen. Doch diese Botschaft gilt jetzt offenbar nicht mehr absolut.
«Wir müssen heute feststellen, dass die Zuwanderung in den letzten Jahren im Schnitt zu hoch gewesen ist.» Das sagt Christoph Mäder, Präsident von Economiesuisse. Und weiter: «Wir können nicht mehr der grenzenlosen Zuwanderung das Wort reden, sondern müssen respektieren, dass es Massnahmen braucht.»
Das habe auch Auswirkungen auf die Verhandlungen, die der Bundesrat mit der EU über den künftigen bilateralen Weg führt. «Wenn die EU tatsächlich ein neues Abkommen mit der Schweiz will, muss sie anerkennen, dass wir mit dem heutigen Ausländeranteil an der ständigen Wohnbevölkerung eine besondere Herausforderung haben.»
Mäder hofft, dass es dem Schweizer Verhandlungsteam gelingt, im Bereich der Zuwanderung eine Form von Schutzklauseln zu definieren.
Trotz kritischen Voten betont Mäder aber den Wert der Personenfreizügigkeit und der bilateralen Verträge mit der EU. Dank ihnen sei der Wohlstand in der Schweiz gestiegen. Wolle die Schweiz den Wohlstand sichern, sei sie aufgrund der demografischen Entwicklung auch weiterhin auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen.
Die SP kritisiert die Kosten der Zuwanderung
Zusammen mit der Wirtschaft war auch die SP während Jahren Garantin für einen stramm bilateralen Kurs, doch nun warnt auch SP-Unternehmerin und Nationalrätin Jacqueline Badran vor den Kosten einer unbegrenzten Zuwanderung.
«Die hohe Zuwanderung hat ihren Preis, sie hat reale Kosten zur Folge. Darüber wurde bisher viel zu wenig gesprochen und darüber redet man auch heute noch immer viel zu wenig», so Badran. Die Städte kämen nicht mehr nach mit dem Bauen von Schulen und dem Ausbau der Infrastruktur.
Es sind all diese Geschäftssitze internationaler Grosskonzerne, die bei uns von tiefen Steuern profitieren und immer mehr Arbeitnehmende ins Land holen.
Für Badran ist aber nicht die Personenfreizügigkeit das Problem. Sie glaubt, Grund für die starke Zuwanderung der letzten Jahre sei das Steuerdumping.
«Es sind all diese Geschäftssitze internationaler Grosskonzerne, die bei uns von tiefen Steuern profitieren und immer mehr Arbeitnehmende ins Land holen.» Das führe zu einer Folgezuwanderung, was die Zahlen der ausländischen Bevölkerung stark ansteigen lasse.
Wirtschaftskreise widersprechen dieser Sichtweise und machen geltend, es gebe keine statistisch relevanten Belege, die zeigten, dass diese Firmen die Zuwanderung überproportional befeuerten.
SVP fordert: Unternehmen sollen Zuwanderung bremsen
Bei der SVP stehen viele nicht hinter der Personenfreizügigkeit mit der EU – Nationalrätin Diana Gutjahr schon. Sie führt in Romanshorn einen Metallbaubetrieb mit 80 Angestellten. Die allermeisten Schweizer, der Rest Ausländer, die schon in der Schweiz lebten.
Sie versuche, wenn immer möglich keine Arbeitskräfte aus dem Ausland in die Schweiz zu holen. Gutjahr nimmt auch andere Unternehmerinnen und Unternehmer in die Pflicht. Statt immer gleich den einfachsten Weg zu gehen und schnell jemanden anzustellen, der dann mit Kind und Kegel komme, sollten sie besser auf Schweizer setzen oder auf Ausländer, die schon hier seien.
Auch die Ämter hätten ihrer Meinung nach die Möglichkeit, Niederlassungen restriktiver zu bewilligen. So habe die Schweiz durchaus Möglichkeiten, die Zuwanderung aus eigener Kraft einzuschränken.
Vertreterinnen von Branchen mit akutem Arbeitskräftemangel, wie zum Beispiel der Gesundheitsbereich oder die Gastrobranche, sehen das dezidiert anders.