Bern erlebt geschichtsträchtige Stunden: Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) wirft nach dem 1. Stapi-Wahlgang das Handtuch – und ebnet den Weg für Marieke Kruit als erste Stadtpräsidentin.
Die Bundesstadt erlebt damit einen doppelt historischen Moment: Zum ersten Mal in der Geschichte wird ein amtierender Stadtpräsident nicht mehr gewählt, und zum ersten Mal in der Geschichte der 1191 gegründeten Stadt übernimmt eine Frau das Stadtpräsidium. Im Erlacherhof, der selbst im woken Bern hochoffiziell «Sitz des Stadtpräsidenten» heisst, regiert künftig eine Stadtpräsidentin. Diese Entwicklungen markieren einen Wendepunkt in der Geschichte Berns.
Warum diese Zeitenwende?
Zum einen hat Alec von Graffenried merken müssen, dass sein Rückstand auf Kruit zu gross war. Marieke Kruit, tatkräftig unterstützt von ihrer SP-Hausmacht, erhielt fast doppelt so viele Stimmen wie von Graffenried. Dieser hat mit der Grünen Freien Liste nur eine Kleinpartei hinter sich, die faktisch als Juniorpartnerin der Wahlsiegerin SP fungiert.
Zum anderen: von Graffenried und Kruit sind politische Zwillinge, die im gleichen Rot-Grün-Mitte-Bündnis (RGM) politisieren und für die gleichen Werte stehen, die in Bern die Wählerinnen und Wähler mobilisieren: weniger Autos, mehr Grün, mehr Begegnungszonen, mehr bezahlbare Wohnungen, mehr Klimaschutz.
Von Graffenried gab sich in seiner Amtszeit zwar volksnah, regierte aber fahrig, konnte seine Botschaften nicht auf den Punkt bringen. Und er floppte mit der Fusion Bern–Ostermundigen. Derweil konnte Kruit etwa mit einer Charme-Offensive beim Gewerbe punkten.
Frauenfrage hat Stapi-Wahl entschieden
Es ist jedoch die Geschlechterfrage, die den Stapi-Wahlkampf entschieden hat. Da wurde auch eine offene Rechnung beglichen: 2016 stürzte Alec von Graffenried die damalige SP-Kronfavoritin Ursula Wyss im letzten Moment vom sicher geglaubten Stapi-Thron. Eine Schmach sondergleichen für die erfolgsverwöhnte Stadtberner SP. Jetzt schlägt das Pendel zurück. Von Graffenried muss der SP-Frau Kruit den Vortritt lassen und sich mit einem Gemeinderatssitz begnügen.
Für viele Bernerinnen und Berner ist es höchste Zeit, dass in der Bundesstadt mit Marieke Kruit eine Frau das Stapi-Amt übernimmt. Frauen sind in Bern eine Macht: Der Frauenanteil im neuen Stadtrat beträgt 60 Prozent. Vor vier Jahren lag er bei 70 Prozent. Mit 55 Frauen und nur 25 Männern hat das Berner Stadtparlament damals einen Landesrekord geschrieben. Auch bei den Gemeinderatswahlen besetzten Marieke Kruit und Ursina Anderegg (GB) die beiden Spitzenplätze. Die Wahl von Kruit ist nicht nur ein politischer, sondern auch ein gesellschaftlicher Sieg für die Frauen in Bern.
Marieke Kruit muss liefern
Bald wird der Erlacherhof, das Stadtpalais mit prächtiger Aussicht auf Aare und Gurten, also «Sitz der Stadtpräsidentin» heissen. Dann muss Marieke Kruit liefern.