- Die Kantone Thurgau und Zürich haben bei Adoptionen aus Indien über Jahre ihre Verantwortung nicht genügend wahrgenommen.
- Zu diesem Schluss kommt eine Studie zu den Adoptionspraktiken von 1973 bis 2002.
- Die Studie wurde von Forscherinnen der Universität St. Gallen und der Berner Fachhochschule sowie einer Historikerin durchgeführt.
Kinder aus Indien seien systematisch ohne die Einwilligung ihrer Eltern adoptiert worden. Das sagt Rita Kesselring von der Universität St. Gallen. Sie leitet das Forschungsprojekt: «Unsere Untersuchung stellt Rechtsverstösse fest. Wir sind in den beiden Kantonen auf 48 Adoptionen gestossen, bei denen die gesetzlich verlangte Verzichtserklärung der leiblichen Eltern nicht vorlag.» Indische Gerichte hätten die Kinder trotzdem offiziell zur Adoption freigegeben. Die kantonalen Behörden hätten den Adoptionen in den meisten Fällen unhinterfragt zugestimmt.
Die Resultate dieser Studie würden nicht erstaunen, sagt Sarah Ineichen, Präsidentin des Vereins «Back to the Roots», der sich für Interessen adoptierter Menschen aus Sri Lanka und anderen Ländern einsetzt. Der Bericht bestätige, was man schon lange gewusst habe: «Die Adoptionsverfahren verliefen rechtswidrig. Das hat zur Folge, dass Adoptierte bis heute ihr Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung nicht einfordern können.»
Über 2000 Adoptionen aus Indien
Die Studie «Mutter unbekannt – Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973 - 2002» untersuchte Adoptionen aus Indien, weil diese zur untersuchten Zeit den grössten Anteil der Adoptionen aus dem Ausland ausmachten. In dieser Zeit wurden 2278 Kinder aus Indien adoptiert – 256 davon im Kanton Zürich, 30 im Thurgau.
Wie die Kantone mitteilen, würden die Ergebnisse der Untersuchung zu den Resultaten anderer Studien passen. Andere Untersuchungen, zum Beispiel aus dem Kanton St. Gallen oder auf nationaler Ebene, zeigten, dass im späten 20. Jahrhundert sowohl kantonale als auch eidgenössische Behörden ihre Aufsichtspflicht oft nicht oder nur ungenügend wahrgenommen hätten.
Nicht der erste Bericht zu Behördenverfehlungen
Ende 2023 zeigte ein Bericht der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), dass es zwischen 1970 und 2000 wohl in mehreren Tausend Fällen zu illegalen Praktiken gekommen sein soll. Bei dieser Studie waren die Herkunftsländer neben Indien auch Bangladesch, Brasilien, Chile, Guatemala, Kolumbien, Korea, der Libanon, Peru und Rumänien.
Schon 2022 sorgte eine Untersuchung im Kanton St. Gallen für Aufsehen, weil das Ausmass der Verfehlungen der Behörden gravierend war: Zwischen 1973 und 2002 wurden in St. Gallen 85 Kinder aus Sri Lanka adoptiert. Kein einziges der Adoptionsverfahren verlief vollkommen rechtens.