Sozialhilfebezügerin E.B. hat das Vertrauen in ihre Wohngemeinde Beinwil im aargauischen Freiamt verloren. Diesen Sommer hat die Gemeinde ihr eine Frühpensionierung schmackhaft gemacht, damit sie sich von der Sozialhilfe lösen kann. Danach hat die Gemeinde verfügt, dass E.B. mit dem Pensionskassengeld Sozialhilfeschulden zurückzahlen muss. «Das zog mir den Boden unter den Füssen weg. Ich hatte unglaubliche Existenzängste, ja sogar Suizidgedanken», sagt die 61-jährige, ehemalige Sekretärin.
Aargauer Gemeinden füllen ihre Kassen mit Rentenguthaben
Was Beinwil macht, ist kein Einzelfall: «Kassensturz» und «Espresso» liegen Dokumente vor, die belegen, dass verschiedene Aargauer Gemeinden von Bedürftigen zum Zeitpunkt der Frühpensionierung verlangen, ihre berufliche Vorsorge aufzulösen und damit die bezogene Sozialhilfe zurückzuzahlen. Mit anderen Worten: Was zeitlebens für das Alter angespart wurde, sackt kurz vor der Pensionierung die Gemeinde ein.
Nie und nimmer ist gedacht, dass Pensionskassengelder so gebraucht werden.
Aufsichtsbeschwerde eingereicht
Die Gemeinde Wettingen geht sogar so weit, dass sie von einer Person das gesamte Altersguthaben von rund 180'000 Franken einfordert, ohne aufzulisten, in welchem Umfang diese materielle Hilfe bezogen hat. Auf Grund dieser Verfügung wurde beim Kanton Aufsichtsbeschwerde gegen Wettingen eingereicht. «Über einzelne Verfahren diskutieren wir nicht in der Öffentlichkeit», sagt die Gemeinde Wettingen dazu.
Experten kritisieren: «Ungesetzlich» und «zweckwidrig»
Für Rechtsanwalt Tobias Hobi von der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) ist das Vorgehen der Gemeinden inakzeptabel. «Nie und nimmer ist gedacht, dass Pensionskassengelder so gebraucht werden. Das Geld ist zweckgebunden und dient der Absicherung im Alter. Wenn Gemeinden versuchen, ihre Sozialausgaben mit Pensionskassengeldern der Betroffenen zu decken, ist das zweckwidrig.»
Michael Meier, Oberassistent für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich doppelt nach: «Auch aus Sicht der Sozialhilfe ist dieses Vorgehen zweckwidrig. Ziel der Sozialhilfe ist, Menschen wieder in die Unabhängigkeit zu führen. Nimmt man den Armutsbetroffenen kurz vor der Pensionierung ihr Altersguthaben weg, werden diese Personen nie mehr unabhängig leben können.»
Aargauer Regierung muss handeln
Was im Aargau passiert, ist in anderen Kantonen wie beispielsweise Zürich explizit verboten. Die Aargauer Gemeinden stellen sich auf den Standpunkt: Was kantonales Gesetz und die Verordnung nicht ausdrücklich verbieten, wird gemacht. Gestützt wird das umstrittene Vorgehen durch ein Urteil des Verwaltungsgerichts aus dem Jahr 2016.
Für den Sozialversicherungsexperten Michael Meier ist klar: «Der Aargau muss dringend nachbessern. Der Regierungsrat muss die Verordnung präzisieren, damit klar ist, dass Freizügigkeitskonten nicht zur Rückzahlung von Sozialhilfeschulden verwendet werden können.»