Die Jugendkriminalität in der Schweiz nimmt zu. Vor allem die Zahl der Gewaltstraftaten steigt an. Doch warum schlagen oder stechen junge Erwachsene vermehrt zu? Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW, sieht vor allem zwei Ursachen.
SRF News: Ausgangsverhalten, Lifestyle, Alkohol – Haben Sie noch weitere Erklärungen für die Zunahme der Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen?
Dirk Baier: Ich würde noch zwei Ursachen ergänzen. Die erste klingt vielleicht etwas trivial, ist sie aber nicht: Es hat sich unter den Jugendlichen zunehmend eine Kultur der Wertschätzung von Gewalt durchgesetzt. Das heisst, man muss sich häufiger mit Gewalt selbst behaupten und auf Provokationen reagieren – gerade männliche Jugendliche. Da gibt es ein Revival von antiquierten Männlichkeitsorientierungen.
Woher kommt dieses Revival?
Ich denke, es ist unter anderem medial vorgelebt. Und vielleicht ist es auch eine gewisse Identitätsproblematik: Wie muss man als junger Mann heute sein? Das ist gar nicht mehr so einfach – und orientiert man sich an solchen antiquierten Dingen.
Vielleicht ist es auch eine gewisse Identitätsproblematik: Wie muss man denn als junger Mann heute sein?
Und dann sehe ich als eine zweite Ursache, dass wir uns in den letzten Jahren sehr stark auf die Prävention islamistischer Radikalisierung fokussiert haben und vielleicht die alltägliche Gewalt ein bisschen aus den Augen verloren haben.
Steigen deshalb die Zahlen seit 2015 wieder? Zuvor waren sie seit 2009 immer zurückgegangen.
Wir haben uns sehr daran gewöhnt, dass die Jugendgewalt nur eine Entwicklung kennt, nämlich den Rückgang. Das führt dann dazu, dass wir uns nicht mehr um so ein Problem kümmern, da es nicht mehr so gegenwärtig ist. Und wir suchen uns neue Probleme, was die Schweiz gut gemacht hat. Die islamistische Radikalisierung hat ja keine grosse Rolle gespielt. Aber dann vergisst man eben ein Stück weit, sich um die alltägliche Gewalt zu kümmern.
Sprechen wir hier primär über ein männliches Problem?
Wenn wir über physische Gewalt reden, dann reden wir im Wesentlichen über Männer. Den Anstieg hat im Wesentlichen mit Männern zu tun. Bei weiblichen Jugendlichen sehen wir kaum Veränderungen im Gewaltverhalten. Es ist eine Krise der Männer, die ein Stück weit dahintersteht.
Wie stark ist der Migrationshintergrund ein Thema?
Das ist ein gefährliches Minenfeld, darüber zu sprechen. Fakt ist: Migrantenjugendliche haben eine etwas höhere Gewaltbereitschaft. Das hat aber viel mit den sozialen Umständen zu tun, zum Teil schlechtere Familienverhältnisse, zum Teil soziale Schwächen, vielleicht auch geringere Schulaussichten.
Fakt ist: Migrantenjugendliche haben eine etwas höhere Gewaltbereitschaft.
Wenn wir uns aber die Anstiege anschauen, muss man ganz klar sagen: Sie gehen auf einheimische Schweizer zurück, und weniger auf Migrantenjugendliche.
Wichtig ist das soziale Umfeld?
Das soziale Umfeld ist für Jugendliche der zentrale Raum. Und da liegen auch die Hauptursachen – zum Beispiel Familie und Schule – die Menschen dazu bringen, gewalttätig zu werden.
Wie kann diese Gewaltspirale unterbrochen werden?
Was wir nicht tun sollten, sind härtere Strafen einführen. Das bringt nichts, das wissen wir ganz klar. Jugendliche interessiert es nicht, ob es jetzt sechs oder neun Monate auf ein bestimmtes Delikt gibt.
Was es braucht, ist eine konzertierte Aktion, eine gemeinsame Haltung derjenigen Akteure, die sich mit Jugendlichen beschäftigen. Das sind die Schulen genauso gefragt wie die Elternhäuser und die Jugendsozialarbeit. Sie müssen es gemeinsam tun.
Das Gespräch führte Urs Gredig.