In Hochdorf (LU) gibt es eine Fabrik, in der jeden Tag Hunderte von Angestellten Fenster zusammenbauen: die Fensterbaufirma 4B. «Wir kämpfen für den Werkplatz Schweiz und wollen diesen Standort verteidigen, stehen aber im Wettbewerb mit ausländischen Anbietern», sagt CEO Jean-Marc Devaud.
Besonders zu schaffen macht der Firma, dass sie sich an den Gesamtarbeitsvertrag (GAV) der Schreiner halten muss. «Wir sind eine Firma mit über 700 Angestellten und 200 Millionen Franken Umsatz. Dieser Gesamtarbeitsvertrag hingegen ist gemacht für Kleinstbetriebe von fünf bis zehn Personen.»
Lohnerhöhungen mit der Giesskanne
Dabei sei der im GAV vorgeschriebene Mindestlohn für die Firma kein Problem. «Beim Fachkräftemangel wären wir schlecht beraten, wenn wir keine attraktiven Bedingungen anbieten würden.»
Ein Problem hingegen seien die Lohnerhöhungen nach dem Giesskannenprinzip, zu der die Firma wegen des GAV regelmässig gezwungen werde. Dies führe bei den «eh schon hohen Löhnen irgendwann zu einem Kostenproblem.»
Die Firma hat sich deshalb zusammen mit anderen dagegen gewehrt, dass der Gesamtarbeitsvertrag allgemeinverbindlich – also für die ganze Branche obligatorisch – wird. Vergeblich.
Vom Gesetz ungeschützt
Besonders stiess der Firma auf, dass das Gesetz sie nicht schützt. Denn dort steht, dass der Bundesrat nur dann Gesamtarbeitsverträge für eine ganze Branche für obligatorisch erklären darf, wenn mindestens je die Hälfte der Arbeitgeberinnen in einem Verband und Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft sind. Die Idee dahinter: Es soll keine Minderheit einer ganzen Branche Arbeitsregeln diktieren.
Doch genau das ist bei den Schreinerinnen und Schreinern der Fall. Nicht einmal ein Viertel (23.3 Prozent, siehe Tabelle) ist Mitglied einer Gewerkschaft.
Bundesrat reizt Ausnahmeregelung aus
Zwar steht im Gesetz auch, dass «ausnahmsweise» bei «besonderen Verhältnissen» von den 50 Prozent abgewichen werden könne, doch diese Ausnahme ist längst zur Regel geworden.
Bei drei Vierteln aller Branchen mit einem allgemeinverbindlichen GAV diktiert eine Minderheit der Angestellten die Arbeitsbedingungen, wie Recherchen von SRF zeigen. Und der Bundesrat drückt beide Augen zu.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das die Anträge für den Bundesrat bearbeitet, beantwortet keine Fragen, schreibt aber: «Der Bundesrat stützt sich bei den Anträgen auf die gesetzlichen Bestimmungen, und diese erlauben gemäss Praxis Ausnahmefälle.»
«Parlament gefordert»
Die Gewerkschaften betonen, das Gesetz sei 70 Jahre alt. «Die Arbeitswelt hat sich massiv verändert. Wenn man heute mit einem Auto herumfahren würde, das 1950 zugelassen worden ist, wäre man wohl auch nicht mehr so gut unterwegs. Die Bestimmungen heute starr auszulegen, macht keinen Sinn», sagt Nico Lutz, Geschäftsleitungsmitglied der Gewerkschaft Unia. Denn es sei im öffentlichen Interesse, GAV mit Mindestarbeitsbedingungen abzuschliessen.
Es ist unschön, wenn diese Bestimmung im Gesetz steht, in der Praxis aber in drei Vierteln aller Fälle nicht erfüllt wird.
Für Kurt Pärli, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Basel, ist jetzt das Parlament gefordert. «Es ist unschön, wenn diese Bestimmung im Gesetz steht, in der Praxis aber in drei Vierteln aller Fälle nicht erfüllt wird – und zwar in erheblichem Ausmass.»
Das Parlament müsste deshalb entweder klarere Vorgaben machen, wann diese Ausnahmen gelten dürfen, oder gleich ganz auf diese Bedingung verzichten.