«Ich sehe noch keine Alarmstimmung. Wir stehen gut da», sagt der ehemalige Preisüberwacher Rudolf Strahm über die Inflationsinsel Schweiz. Mit 2.5 Prozent steht die Schweiz tatsächlich vergleichsweise allein da. Am anderen Ende ist Estland mit 19 Prozent zu finden. Unsere Nachbarn bewegen sich dagegen zwischen 5.4 und 7.8 Prozent und in den USA liegt die Inflationsrate aktuell bei 8.5 Prozent. Doch was macht die Schweiz einzigartig – und ist die Inflation wirklich kein Problem?
Mit dem Schweizer Franken haben wir einen Vorteil. «Wir haben jetzt eine Frankenaufwertung von etwa acht Prozent gegenüber dem Euro», sagt Rudolf Strahm. Wenn dadurch der Franken mehr Kaufkraft hat im Ausland, kann man so die Teuerung von Auslandsgütern auffangen. Und gerade dort ist die Teuerung im Moment besonders hoch. Gemäss Strahm spüren wir in der Schweiz vor allem die Erdöl- beziehungsweise Energiepreise, kombiniert mit dem Lieferkettenproblem, das sich bereits während der Pandemie akzentuiert hat.
Die Energiepreise treffen insbesondere jene, die sie direkt zahlen müssen. Das gilt beispielsweise für Autobesitzer oder Hausbesitzer mit Gas- oder Ölheizungen. Und natürlich wälzen die Unternehmen die Energiepreise auch auf die Produkte ab.
Laut einer Umfrage der Wirtschaftsnachrichtenagentur AWP bei Detailhändlern sind die Preise seit Beginn des Jahres für beispielsweise Elektrogeräte im einstelligen Prozentbereich gestiegen. Bohnenkaffee kostet 10 Prozent mehr, Textilien schlugen 15 Prozent auf und für Batterien muss man 25 Prozent mehr auf den Ladentisch legen, um einige Beispiele zu nennen.
Preissteigerungen sprengen das Budget
Am meisten betroffen sind Menschen mit tieferen Einkommen. In der Schweiz waren im Jahr 2020 gemäss Bundesamt für Statistik 722‘000 Menschen von Armut betroffen. Die Armutsquote steigt seit 2014 zwar nicht extrem, aber stetig. In der Quote wird der von Armut betroffene Anteil der Gesamtbevölkerung in Privathaushalten abgebildet. Zwar gibt es dazu noch keine neueren Zahlen als von 2020, doch der Trend ist erkennbar.
Gemäss Angaben von Caritas Schweiz sind insgesamt 1.3 Millionen Menschen in der Schweiz von Armut betroffen oder gefährdet. Viele Menschen in der Schweiz leben in Haushalten, deren Einkommen nur knapp über der Armutsgrenze liegt, wie Aline Maset von der Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz erklärt. Sie gelten offiziell zwar nicht als arm, müssen aber jeden Rappen umdrehen. Wenn in einzelnen Bereichen die Preise nur minim steigen, dann haben sie sofort ein Problem.
Allgemein sehe man, dass mehr Leute in den Caritas-Märkten einkaufen, sagt Maset. Hier können unter anderem Menschen einkaufen, die von Armut betroffen sind und auch solche, die keine Sozialhilfe beziehen und weniger als 3500 Franken Netto pro Monat verdienen.
Armutsgefährdete oder -Betroffene reagieren also besonders preissensibel. Sie haben nur drei Möglichkeiten, mit ihrem Haushaltsbudget auszukommen:
- Substitution von Produkten durch billigere
- Reduktion der Einkaufsmenge
- Verzicht
Die Menschen würden bei den Nahrungsmitteln sparen, Mahlzeiten auslassen oder weniger Gemüse kaufen, damit sie nicht auf das Auto verzichten müssten, das sie zur Arbeit bringt, sagt die Caritas-Mitarbeiterin. «Wir sehen aber auch, dass viele im Gesundheitsbereich Abstriche machen. Viele gehen nicht zum Arzt oder kaufen das Medikament nicht, das sie eigentlich dringend brauchen würden», ergänzt Maset. Was wiederum gesundheitliche Folgekosten nach sich ziehen kann.