Paukenschlag im Fall Pierin Vincenz: Der ehemalige Raiffeisen-Chef wurde vor zwei Jahren wegen Betrugs und mehrfacher Veruntreuung vom Zürcher Bezirksgericht verurteilt. Nun hat das Obergericht das erstinstanzliche Urteil wegen «schwerwiegender Verfahrensfehler» aufgehoben. Es weist die Sache an die Staatsanwaltschaft zurück; diese muss nun eine neue Anklage erheben. Peter V. Kunz, Professor für Wirtschaftsrecht an der Universität Bern, ordnet ein.
SRF News: Peter V. Kunz, Sie haben die Anklageschrift im Vorfeld ebenfalls kritisiert – nun also wird sie offiziell vom Obergericht zurückgewiesen, weil sie zu ausschweifend ist und nicht übersetzt wurde: Warum hat das Bezirksgericht eine solche Anklageschrift nicht zurückgewiesen?
Peter V. Kunz: Das hat mich ehrlich gesagt auch ein wenig überrascht im Jahr 2022, weil die Anklageschrift offensichtlich mangelhaft war. Man kann jetzt natürlich spekulieren, ob das Bezirksgericht Zürich insbesondere die Verjährung verhindern wollte. Weil vor Prozessbeginn hatte die Verjährung in verschiedenen Delikten bereits gedroht, denn die angeblichen Straftaten liegen zum Teil schon 20 Jahre zurück. Das konnte nur verhindert werden, wenn das Bezirksgericht überhaupt ein Urteil spricht. Hätte man es zurückgewiesen, wie jetzt das Obergericht an die Staatsanwaltschaft, dann wäre bereits im Sommer 2022 in verschiedenen Bereichen die Verjährung eingetreten. Insofern könnte es – das ist spekulativ – auch ein pragmatischer Entscheid gewesen sein, dass das Bezirksgericht den Fall trotz offensichtlicher Mängel bei der Anklage in die Hand genommen hat.
Selbst das Obergericht muss sich die Frage stellen lassen, weshalb es so lange gedauert hat.
Welches Licht wirft dieser Fall auf die Zürcher Justiz?
Leider ein sehr schlechtes Licht. Auf der einen Seite ist die Staatsanwaltschaft direkt betroffen, die hier kritisiert wird. Aber auch das Bezirksgericht Zürich muss sich Fragen stellen: Weshalb hat man nicht früher zurückgewiesen? Weshalb hat man nicht moniert, dass keine Übersetzung vorlag? Selbst das Obergericht, das jetzt alles aufgehoben und zurückgewiesen hat, muss sich die Frage stellen lassen, weshalb es so lange gedauert hat: Dass die Anklageschrift ausschweifend, plauderhaft war und dass keine Übersetzung vorlag, weiss man ja bereits seit Anfang 2022.
Was heisst die jetzige Situation für den Angeklagten Pierin Vincenz?
Es ist nicht so, dass Herr Vincenz und die Mitangeschuldigten hier Champagnerkorken springen lassen können. Es ist nicht wirklich ein Sieg, es ist höchstens ein Zwischenerfolg. Aber es ist anzunehmen, dass die Staatsanwaltschaft einfach den ganzen Fall neu aufrollt. Es ist also kein Freispruch für Herrn Vincenz, sondern man geht zurück auf Feld eins.
Das ist nicht nur ein schlechtes Zeichen für die Zürcher Justiz, sondern auch extrem unangenehm für die Angeschuldigten.
Das ist sogar eher eine Belastung für die Angeschuldigten, denn jetzt geht es einige Jahre länger, bis sie Gewissheit haben, ob sie ins Gefängnis müssen oder ob sie freigesprochen werden. Und das ist jetzt nicht nur ein schlechtes Zeichen für die Zürcher Justiz, sondern auch extrem unangenehm für die Angeschuldigten. Herr Vincenz hat nach wie vor die Vermögenssperre. Und ganz offen gesagt: In einem Rechtsstaat gehört sich das nicht. Da muss man Verfahren zügig durchführen. Das ist hier leider ganz offensichtlich nicht der Fall.
Das Gespräch führte Florence Fischer.