Der Fall Vincenz galt medial als einer der grössten Wirtschaftskriminalfälle der Schweiz. Der Beschuldigte Pierin Vincenz war alles andere als ein Unbekannter. Der damalige Chef der drittgrössten Bank der Schweiz war nahbar und bodenständig – ein sympathischer Bündner, so ganz anders als die Manager der beiden Grossbanken. Umso grösser war der mediale Knall, als ausgerechnet er ins Visier der Justiz geriet.
Die Vorwürfe sind happig, happig war auch das erstinstanzliche Urteil. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Vincenz vor zwei Jahren zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und neun Monaten. Die erste Instanz sah es als erwiesen an, dass der ehemalige Chef der Raiffeisenbank mit seinem Partner Beat Stocker sich des Betrugs und der ungetreuen Geschäftsbesorgung schuldig gemacht hätten. Nun hat das Obergericht das Urteil gegen den Ex-Raiffeisen-Chef überraschend aufgehoben.
Schwere Mängel in der Anklage
Das Obergericht wirft der Staatsanwaltschaft schwere Mängel in der Anklage vor. Sie sei zu detailliert und würde den gesetzlichen Rahmen sprengen. Sie genüge der Strafprozessordnung nicht. In der ersten Instanz hatte sich die Staatsanwaltschaft praktisch auf ganzer Linie durchgesetzt. Vincenz und Stocker, der frühere Chef der Kreditkartenfirma Aduno, hätten sich illegalerweise an Unternehmen beteiligt, die später von Raiffeisen und Aduno gekauft wurden.
Das Verdikt des Obergerichts erstaunt. Ankläger Marc Jean-Richard-dit-Bressel gilt als hervorragender Jurist mit einem exzellenten Leistungsausweis. Für eine Stellungnahme ist er nicht erreichbar.
Stand jetzt habe die Staatsanwaltschaft das Urteil des Obergerichts noch nicht offiziell erhalten, entsprechend könne sie den Beschluss weder analysieren noch kommentieren. Klar ist: Die Kehrtwende hat die Anklage auf falschem Fuss erwischt. Sie wird sich unangenehmen Fragen stellen müssen.