Die klassischen Schulschwänzer sind Gymnasiasten, glaubt man zu wissen. Doch nicht sie bereiten den Lehrerinnen und Lehrern Kopfzerbrechen, sondern die Kleinsten, sagt Freddy Noser, Präsident der Schulleiterinnen und Schulleiter im Kanton St.Gallen. «Das beginnt schon im Kindergarten. Wir haben dort viele Absenzen.» Dass zunehmend im Kindergarten und der Primarschule Stühle leer bleiben, beunruhigt ihn.
Wenn wir jetzt nicht hinschauen, haben wir in zehn Jahren noch ein grösseres Problem, mit Absenzen von 20 oder 30 Prozent
«Man kann nicht mehr wegschauen. Man muss es ernst nehmen. Wenn wir es jetzt nicht machen, haben wir in zehn Jahren noch ein grösseres Problem, mit Absenzen von 20 oder 30 Prozent.» Zum Schulabsentismus bei den Kleinsten gibt es keine Auswertungen, denn die Abwesenheiten werden nicht statistisch erfasst. Deshalb sei es wichtig, genau hinzuschauen, sagt Noser.
Angst ist das grosse Thema
In St.Gallen befasst sich eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, des Kinderspitals oder des schulpsychologischen Dienstes mit dem Thema. Mitglied der Gruppe ist Elsbeth Freitag, Vizedirektorin des Schulpsychologischen Dienstes. Ihr Rat ist dann gefragt, wenn Lehrpersonen nicht weiterkommen.
Sie beleuchtet die Gründe, weshalb sechs-, sieben-, achtjährige Mädchen und Buben nicht zur Schule kommen: «Wir wissen aus der Forschung, dass bei Schulabsentismus bei 80 Prozent Wahrscheinlichkeit Angst im Spiel ist: Schulangst, Versagensangst, Angst der Eltern, Angst des Kindes vor Ausgrenzung, Demütigung, Mobbing, und vieles mehr.»
Wir wissen aus der Forschung, dass bei Schulabsentismus bei 80 Prozent Wahrscheinlichkeit Angst im Spiel ist.
Diese Schulängste führten dazu, dass Kinder im Wissen ihrer Eltern zu Hause blieben, manchmal für Tage oder Wochen. Vor allem die Mütter seien dafür verantwortlich, sagen Experten. Mütter fänden oft, ihr Kind sei gestresst, es schlafe schlecht, es brauche etwas Ruhe. Darüber zu sprechen, falle vielen schwer.
Aus Scham wird nicht darüber geredet
Freitag stellt fest, dass Schulabsentismus für viele Beteiligte, auch für Lehrpersonen, mit einem gewissen Schamgefühl verbunden ist. Der Lehrer frage sich, was er falsch mache, dass das Kind nicht mehr komme. Auch die Mutter frage sich, was sie falsch mache, wenn das Kind nicht mehr aus dem Haus wolle. Und schliesslich schäme sich das Kind, weil es das Gefühl habe, im Unterricht nicht zu genügen. Scham sei deshalb ein wichtiges Thema, sagt Freitag: «Da will man privat bleiben. Doch das ist ein Fehler. Man muss sich vernetzen und zusammenarbeiten.»
Wissenschaftlich wurden die Gründe für Schulabwesenheiten in der Schweiz bisher nur bei Oberstufen-Schülern untersucht. Eine Studie dazu hat Erziehungswissenschafterin Margit Stamm verfasst. Sie ist emeritierte Professorin der Universität Freiburg.
Viele Eltern haben den Eindruck, dass sie besser wüssten, wie man Schule geben sollte und wie man sich als Lehrperson zu verhalten hat.
Stamm überrascht es nicht, dass Absentismus in der Primarschule zum Thema wird. Sie erkennt einen Wertewandel in der Gesellschaft. Gerade bei der heutigen Elterngeneration sei die Hemmschwelle gesunken, sich den Schulregeln zu unterordnen. Eltern fühlten sich der Schule gegenüber kompetent. «Viele Eltern haben den Eindruck, dass sie besser wüssten, wie man Schule geben sollte und wie man sich als Lehrperson zu verhalten hat. Weiter sind wir eine unverbindlichere Gesellschaft geworden. Es ist eine Kultur der Unverbindlichkeit, die sich auf diese Generation niederschlägt.»
Der Entwicklung Gegensteuer geben
Diese Tendenzen seien schweizweit feststellbar, der Kanton St.Gallen stehe damit nicht alleine da. Wenn Kindergarten-Kinder, zu Hause bleiben und Primarschüler abwesend sind, stünden alle in der Pflicht, da sind sich die Befragten einig.
In St.Gallen wollen Pädagogen, Psychologen und Ärzte gemeinsam dafür sorgen, dass Schuleschwänzen nicht zum dominierenden Problem wird, mit Infokampagnen oder Lehrerfortbildungen etwa. Die Experten wollen auch die Eltern vermehrt in die Pflicht nehmen. Denn halten sie ihre Kinder gewollt von der Schule fern, können sie gebüsst oder gar angezeigt werden.