Zum Inhalt springen

Ausweitung Zertifikatspflicht Ein heikler Moment für die Schweizer Gesellschaft

Der Bundesrat ist nicht zu beneiden. Aus vielen Spitälern kommen Hilferufe und Warnungen, die Intensivstationen seien bald ausgelastet. Jede Massnahme, um die Pandemie einzudämmen, wirkt aber erst in zwei bis drei Wochen. Der Bundesrat kann also nicht warten, bis es wirklich keinen Platz mehr hat.

Er stand nun also vor der Wahl: Wartet er noch in der Hoffnung auf eine Besserung der Situation, riskiert er, dass Notfallpatientinnen und -patienten nicht mehr die nötige Hilfe bekommen.

Will er hingegen jetzt eingreifen, hat er zwei Möglichkeiten: Das Leben für alle wieder einzuschränken, zum Beispiel mit Schliessungen oder schärferen Vorschriften. Oder von jenen, die weder geimpft noch genesen sind, häufiger einen Test zu verlangen – also die Zertifikatspflicht auszuweiten.

Zertifikatspflicht war naheliegend

Rund drei Viertel der Bevölkerung sind entweder genesen oder geimpft oder brauchen kein Zertifikat, weil sie jünger als 16 Jahre sind. Auch darum ist nachvollziehbar, dass der Bundesrat ab kommendem Montag die Zertifikatspflicht ausweitet.

Eine gewisse gesellschaftliche Sprengkraft hat dieser Entscheid aber, weil der Bundesrat schon früher beschlossen hat, das Testen per 1. Oktober für Personen ohne Symptome grundsätzlich kostenpflichtig zu machen – ausser sie können sich nicht impfen lassen.

Die SVP-Bundesräte setzten sich öffentlich dafür ein und fanden dafür in der Regierung eine Mehrheit. Wer sich nicht impfen lasse, obwohl dies möglich sei, solle für diese eigenverantwortliche Entscheidung auch selber bezahlen, hiess es.

Nur: Die Testkosten treffen die Einzelnen sehr unterschiedlich hart, je nachdem, ob sie sowieso schon sparen müssen, oder ob Geld kein Thema ist. Impfunwillige mit kleinem Portemonnaie kommen dadurch viel stärker unter Druck. Hier kann sich aus Hilflosigkeit eine Wut gegen den Staat anstauen, die mit kostenlosen Tests vermeidbar gewesen wäre, oder mit Impfen, klar.

Zentrale Werte für Befürworter und Gegner

Die Schweizer Demokratie hat eine lange Tradition darin, mit anderen Meinungen einigermassen sorgsam umzugehen. Nach Abstimmungen zum Beispiel bemüht sich die Siegerseite meistens, die Anliegen der Unterlegenen trotzdem ernst zu nehmen und nicht lächerlich zu machen. Und die, die verloren haben, akzeptieren den Entscheid der Mehrheit, auch wenn es ihnen schwerfällt.

An diese Tradition kann die Schweiz in den kommenden, für uns als Gesellschaft heiklen Monaten anknüpfen. Es wird aber viel schwieriger sein als nach einer Abstimmung, weil für beide Seiten existenzielle Werte und Bedürfnisse auf dem Spiel stehen:

Zum Beispiel das Recht, sich nicht impfen zu lassen, das Bedürfnis nach Geselligkeit, das Funktionieren der Wirtschaft und die Sicherheit, jederzeit die bestmögliche medizinische Versorgung zu erhalten.

Gelingt es, den Respekt für die andere Seite hochzuhalten, egal wie unverständlich einem die Beweggründe der jeweils anderen erscheinen, hat die Schweiz viel gewonnen. Gelingt es nicht, könnten ihr die Folgen noch lange zu schaffen machen. Eine polarisierte Gesellschaft nützt niemandem.

Nathalie Christen

Bundeshausredaktorin

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Christen ist Korrespondentin im Bundeshaus für Fernsehen SRF. Sie arbeitet seit 2002 für SRF. Unter anderem leitete sie die Bundeshausredaktion von Radio SRF und war Produzentin bei der «Arena». Zuvor war sie Bundeshausredaktorin beim «SonntagsBlick».

Hier finden Sie weitere Artikel von Nathalie Christen und Informationen zu ihrer Person.

Tagesschau, 08.09.2021, 18:00 Uhr

Meistgelesene Artikel