«Sechs Tage. Das war die längste Zeit, die ich weg war. Damals tauchte ich mit einer Kollegin unter, die auch in der psychiatrischen Klinik war. Am Ende wurde ich von der Polizei abgeführt.» Mary und ihre damalige Freundin wollten zu einer Party, hatten aber keinen Ausgang. «Es war für uns klar, dass wir an die Feier gehen, auch ohne Erlaubnis.»
Lukas A. ist der Vater von Mary. Er erinnert sich an eine äusserst schwierige Zeit – die Zeit, als seine damals 13-jährige Tochter Mary begann, von zu Hause auszureissen. Nachts, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. «Man merkte, wie sich das steigerte. Mary hatte einen gewissen Druck, etwas war nicht in Ordnung. Plötzlich kam es auf einen Schlag – und sie war weg», erzählt A.
Immer wieder suchte er seine Tochter, nachts, stundenlang. «Man ruft Kollegen an, ob sie etwas wissen von Mary. Für die Suche in der Stadt haben wir uns jeweils in Gruppen aufgeteilt. Doch gefunden haben wir sie nie.»
Ein Vater in ständiger Angst
Die Folgen für den Vater waren schwerwiegend: Er machte sich nächtelang Sorgen um seine Tochter, konnte kaum schlafen und ging immer wieder vom Schlimmsten aus.
Ich erklärte ihr, dass ich das nicht mehr aushalte.
Es musste sich etwas ändern, er konnte nicht mehr. «Schliesslich habe ich sie doch einmal per Handy erreicht. Ich erklärte ihr, dass ich das nicht mehr aushalte.» Mary und ihr Vater trafen eine Abmachung: Sie sollte ihm regelmässig eine Textnachricht per SMS schreiben, dass sie in Sicherheit ist.
Auch Lucas Maissen schreibt die Jugendlichen an. Er leitet das «Schlupfhuus» in Zürich. Das ist eine Institution, die Jugendliche für eine Dauer von bis zu drei Monaten aufnimmt.
«Es ist wichtig, den Jugendlichen zuzuhören»
Wenn hier eine Bewohnerin oder ein Bewohner plötzlich fehlt, kontaktiert sie Lucas Maissen meistens mit einer Textnachricht über Whatsapp oder Social Media: «Die Jugendlichen nehmen kaum einen Anruf entgegen, doch Textnachrichten lesen sie. Wir versuchen, eine beziehungsbezogene Botschaft zu schicken: ›Du bist uns wichtig als Mensch, uns interessiert, wo Du bist, wir machen uns Sorgen›. So rücken wir weniger ins Zentrum, dass sie etwas falsch gemacht haben.»
Je nach Alter und Verfassung des Jugendlichen meldet Maissen den Vermissten bei der Polizei. Entscheidend ist die Frage, ob die Person selbst- oder fremdgefährdet ist. «Als eine junge Frau nicht zurückkam, die in einer schlechten psychischen Verfassung war und bereits einmal auf den Bahngeleisen gesichtet wurde, wussten wir, dass sie polizeilich gesucht werden muss.»
Hinter Gitter oder in Freiheit
Mary ist heute 22-jährig und steht mit beiden Beinen fest im Leben. Sie hat eine Garage in ein kleines Crossfit-Studio umfunktioniert und trainiert regelmässig. Ihr Ziel ist die Ausbildung zur Personal-Trainerin. Doch wie kam es so weit, dass Mary den Weg zurück in ein selbständiges Leben fand?
Ich musste realisieren, dass ich in einer geschlossenen Anstalt enden würde.
«In meinem Fall war es so, dass ich realisieren musste, dass ich in einer geschlossenen Anstalt enden würde, mit Gitterstäben vor den Fenstern. Das wollte ich auf keinen Fall.»
Lukas A. pflegt heute eine gute Beziehung zu seiner Tochter: «Sie hat nicht mich persönlich verletzt. Sie hat mit sich selber gehadert. Mary hat das einfach so erleben müssen. Ich konnte ihr diese schwierige Zeit verzeihen und sagen: Neuanfang – wir blicken nach vorne.»