«Es ist noch sehr präsent», sagt Daniel Albertin, Gemeindepräsident von Albula/Alvra, ein Jahr nach der Evakuierung von Brienz/Brinzauls. «Der Evakuierungsentscheid war sehr einschneidend für die Bevölkerung.»
Ein Blick zurück: Dass ihr Dorf abrutscht und dass ein Bergsturz oberhalb der Häuser drohte, wusste die Brienzer Bevölkerung schon zeit ihres Lebens. Vor einem Jahr wurde es immer ernster. Im April 2023 beschloss die Gemeinde Albula/Alvra, allfällige Pläne für eine komplette Evakuierung wiederaufzunehmen. Fachpersonen warnten, laut Geologen sollten die Felsmassen innert 14 Tagen abstürzen.
Einige Tage später informierte der Gemeindestab über die «sehr beunruhigende Lage». Es wurde Mai. Dann ging es Schlag auf Schlag. Aus Phase Gelb wurde Phase Orange, und schliesslich Phase Rot. Das bedeutet: Betreten verboten – das Dorf war in grosser Gefahr. Am 12. Mai hiess es dann: Sachen packen.
Weg von zu Hause, in Nachbardörfern oder bei Verwandten, harrten die Leute aus. Doch das Warten zog sich mehrere Wochen hin. Bis sich in der Nacht vom 15. Juni kurz vor Mitternacht – nach über einem Monat des Wartens – 1.2 Millionen Kubikmeter Gestein als rasanter Schuttstrom Richtung Dorf bewegten. Und wenige Meter vor dem Schulhaus zum Stillstand kamen.
Insgesamt zwei Monate lang blieb Brienz leer. Länger, als die Geologen anfänglich gedacht hatten. Ihre Einschätzung, der Hang würde innerhalb von 14 Tagen kommen, sorgte für Kritik. Diese wurde lauter, je länger diese Frist überschritten war. Brienzer Bauern kritisierten zum Beispiel, dass sie ihre Arbeit nicht mehr ausüben können. Gemeindepräsident Albertin sagt rückblickend: «Diese Kritik darf man nicht persönlich nehmen. Dass es Kritik gibt, ist normal.»
Die Gemeinde habe viele Gespräche mit Betroffenen geführt. «In dieser Situation muss man die Direktbetroffenen vor Augen haben», sagt Albertin. Anarchie sei nicht ausgebrochen, da die meisten die Entscheidungen des Gemeindeführungsstabs mittrugen. «Im Nachhinein muss man sagen, dass die Entscheidungen richtig waren.»
Unsicherheit ist geblieben
Seit nunmehr zehn Monaten ist die Bevölkerung zurück im Dorf. Ein Bauer sagt: «Noch eine Evakuierung wäre nicht gut für Brienz.» Das Leben hat sich normalisiert, der Berg bleibt – vor allem im Hinterkopf.
Die Unsicherheit schlägt sich nieder in den Aussagen der Betroffenen. Wie geht es weiter? Ein Forstwart sagt: «Es heisst, dass in fünf Jahren auskommt, ob das Dorf für immer evakuiert wird. Logisch will man nicht gehen, wir sind hier aufgewachsen.» Heisst es plötzlich: Sachen packen für immer?
Neuer Stollen gibt Hoffnung
Momentan gilt der Berg als sicher. Das aktuell grössere Problem ist der Untergrund. Darum wird ein bestehender Sondierstollen für die Entwässerung ausgebaut. So soll das Wasser aus dem Gestein abgelassen werden können. Das Ziel: die Rutschung des Bergs verlangsamen oder gar ganz stoppen. Das Bauprojekt kostet rund 40 Millionen Franken.
Kürzlich starteten die Bauarbeiten. Mit Bohrungen und Sprengungen soll der Stollen zwei Kilometer lang werden. «Die Bedeutung des Bauwerks ist enorm», sagt Daniel Albertin, Gemeindepräsident von Albula/Alvra. «Wir haben die Hoffnung, dass man weiterhin in Brienz/Brinzauls wohnen, leben und wirtschaften kann.»
Die Gemeinde rechnet mit einer Bauzeit von dreieinhalb Jahren. Spätestens dann hoffen die Brienzerinnen und Brienzer, dass es nie wieder plötzlich heisst: Sachen packen.