Herr und Frau Schweizer packt das Fernweh: Liess die Pandemie in den letzten zwei Jahren viele Reiselustige hierzulande die Heimat erkunden, sind nun wieder Badeferien im Süden Trumpf. Tourismus-Experte Jürg Stettler erklärt, weshalb das Meer für viele wie ein Magnet wirkt – Berge als Feriendestination künftig aber trotzdem stärker gefragt sein könnten.
SRF News: Die Buchungen von Badeferien boomen, obwohl die Corona-Fallzahlen im Ausland steigen und in Europa Krieg herrscht. Wie geht das zusammen?
Jürg Stettler: Herr und Frau Schweizer haben grundsätzlich ein grosses Reisebedürfnis. Daran vermochten in der Vergangenheit auch Terroranschläge an beliebten Tourismus-Destinationen nicht zu rütteln. Zudem besteht ein grosses Nachholbedürfnis: Jeder Ferienort, der seine Corona-Restriktionen lockerte, wurde in den letzten Monaten im Nu wieder zum Hotspot. Mallorca ist das beste Beispiel dafür.
Auch wenn derzeit das Chaos an den Flughäfen dem einen oder anderen die Lust am Fliegen nimmt: Wer Ferien im Ausland gebucht hat, wird die Reise antreten, denn vertragstechnisch gibt es gar keine andere Möglichkeit.
Viele Schweizerinnen und Schweizer haben in den letzten beiden Jahren weniger Geld ausgegeben – spielt auch dies eine Rolle?
Klar. Ganz grundsätzlich verfügen Schweizer über die finanziellen Möglichkeiten, ins Ausland zu verreisen. Jetzt lockt zusätzlich der schwache Euro: Der Aufenthalt im Süden wird günstiger.
Warum sind gerade Badeferien am Mittelmeer so beliebt?
Das Element Wasser ist für Kinder und Familien sehr attraktiv, daher haben Ferien am Meer eine hohe Anziehungskraft. Hinzu kommt: Die Garantie für schönes Wetter und warme Temperaturen gab es lange nur im Süden – und das ist ein zentrales Buchungskritierum im Sinne der Planbarkeit.
Die Nachhaltigkeit ist ein nicht zu unterschätzender Faktor beim Buchen.
Allerdings gilt festzuhalten: Wenn die Prognosen stimmen und der Klimawandel zu immer heisseren Sommer führt, sind Ferien im brütenden Griechenland vielleicht bald nicht mehr so hoch im Kurs. Und auch die Nachhaltigkeit ist ein nicht zu unterschätzender Faktor beim Buchen.
Mit Blick auf die langen Schlangen an Flughäfen scheint die Sorge ums Klima allerdings in den Hintergrund gerückt zu sein.
Der Eindruck täuscht. Wir wissen heute, dass CO2-Kompensationen bei Reisen häufiger gewählt werden. Auch immer mehr Hotels berechnen heute schon fix eine solche Abgabe ein, ohne dass sich Reisende dagegen wehren würden. Auf der Onlineplattform Booking.com kann man heute bewusst nach nachhaltigen Unterkünften suchen. Das wäre vor fünf Jahren undenkbar gewesen. Wir sehen momentan auch: Buchungen von Aufenthalten in den Schweizer Bergen liegen teils noch immer über dem Niveau von 2019.
Wie dürfte das Reiseverhalten der Schweizer und Schweizerinnen langfristig aussehen?
Die Flugscham wird anhalten. Die Zeiten, in denen man mit einem Shoppingtrip nach New York geprahlt hat, sind vorbei. Man kann davon ausgehen, dass man in Zukunft weniger häufig weit, dafür tendenziell länger verreisen wird. Denn die Flüge werden teurer werden: Zum einen, weil die Energiepreise steigen. Zum anderen, weil die CO2-Abgabe bloss eine Frage der Zeit ist. Denn der Bund kommt nicht umhin, Massnahmen gegen die Klimaerwärmung zu ergreifen. Und beim Reisen kann er den Hebel ansetzen.
Auch Airlines werden wahrscheinlich nicht mehr den gleich dichten Flugplan wie früher bewirtschaften können, denn der lukrative Geschäftsverkehr im Business- und First-Class-Segment kommt nicht mehr im selben Masse zurück.
Das Gespräch führte Evelyne Fischer.