Im Sommer erklärte der Bund, der finanzielle Ausblick der AHV sei zu pessimistisch gewesen – um mehrere Milliarden Franken. Grüne und SP reichten eine Beschwerde ein, nachdem sie den Abstimmungskampf knapp verloren hatten.
Bei dieser letzten Reform der AHV ging es um eine zusätzliche Finanzierung der AHV – durch zusätzliche Mehrwertsteuerprozente und dadurch, dass das Rentenalter der Frauen an jenes der Männer angeglichen werden sollte. Das Ja zur Vorlage gab auch allen die Möglichkeit, flexibler in Pension zu gehen.
Je knapper ein Abstimmungsresultat, desto näher liegt potenziell eine Aufhebung der Abstimmung beziehungsweise desto weniger schwerwiegend muss der Fehler sein.
Ist die AHV-Abstimmung von 2022 vergleichbar mit der Abstimmung zur Initiative für die Beseitigung der Heiratsstrafe im Jahr 2016, die vom Bundesgericht annulliert wurde? In einem Punkt lassen sich die beiden Abstimmungen vergleichen: Beide gingen äusserst knapp aus: Die Initiative der damaligen CVP gegen die Heiratsstrafe wurde mit 50.8 Prozent abgelehnt – das war im Jahr 2016. Bei der Abstimmung über die AHV im Herbst 2022 gab es ein Ja mit 50.6 Prozent.
Rechtsprofessor Markus Kern von der Universität Bern, sagt dazu: «Je knapper ein Abstimmungsresultat, desto näher liegt potenziell eine Aufhebung der Abstimmung beziehungsweise desto weniger schwerwiegend muss der Fehler sein.»
Fehler Faktor fünf
Bei der Heiratsstrafe lag die geschätzte Anzahl der betroffenen Ehepaare viel zu tief: 80'000 Ehepaare seien von diesem Steuernachteil betroffen, hiess es in den Abstimmungsunterlagen. Zwei Jahre später schätzte der Bund diese Zahl dann fünf mal höher ein. Das Bundesgericht anerkannte: So konnte sich die Stimmbevölkerung keine korrekte Meinung bilden – und hob die Abstimmung auf.
Bei der Abstimmung zur AHV-Reform, die nun zur Diskussion steht, stellten sich die Finanzperspektiven der AHV als zu pessimistisch heraus. Für den Rechtsprofessor Felix Uhlmann von der Universität Zürich ist das ein wichtiger Unterschied: «Bei der Heiratsstrafe war die Anzahl der betroffenen Paare wirklich die absolut zentrale Frage. Bei der AHV-Abstimmung gibt es mehrere Gründe, weshalb die Stimmberechtigten so gestimmt haben wie sie gestimmt haben. Ging es um die Gleichbehandlung von Mann und Frau oder die finanzielle Lage der AHV?»
Uhlmann betont zudem: Entscheidend sei, wie stark das Bundesgericht gewichte, dass ein Teil der AHV-Reform auf Anfang Jahr bereits in Kraft getreten ist. Denn hier liegt ein weiterer Unterschied vor: Die AHV-Reform wurde angenommen, die Initiative gegen die Heiratsstrafe abgelehnt.
Auch der Berner Rechtsprofessor Kern erwähnt diesen Punkt. Er vergleicht die Beschwerde zur AHV-Abstimmung deshalb eher mit jener zur Unternehmenssteuerreform II im Jahr 2008. Damals hob das oberste Gericht die Abstimmung nicht auf, da die Umsetzung bereits begonnen hatte.
Dass die Reform bereits in Kraft ist und die falsche Prognose wohl nicht die einzig ausschlaggebende Grösse war, spricht also gegen ein Aufheben, das knappe Resultat hingegen dafür. Das Bundesgericht fällt seinen Entscheid bis am Mittag.