Noch vor wenigen Wochen schien es, als habe die Schweiz die Pandemie besser im Griff als andere Länder. «Nun haben wir eine der schlechtesten Lagen in Europa», sagte ein tief besorgter Alain Berset am Mittwoch.
Doch der ganze Kontinent ist in Alarmstellung: Ausgangssperren, «Teil-Lockdown», «Slowdown» – in vielen Ländern wird das öffentliche Leben wieder heruntergefahren. Und auch Bund und Kantone sind sich einig: Steigen die Zahlen weiter, müssen die Massnahmen verschärft werden.
Das weckt Ängste: In der Bevölkerung, der Wirtschaft, in der Kulturszene und im Sport. Über allem schwebt die Verunsicherung vieler Menschen, dass sich das Virus scheinbar ungebremst ausbreitet.
Das weiss auch Bundesrat Berset. Im «Tagesgespräch» wiederholt er: «Die Lage hat sich stark verschlechtert.» Die zentrale Frage für Bund und Kantone ist nun: Was tun? Es brauche einen Mittelweg, macht Berset klar: «Wir müssen das Gesundheitssystem, die Gesellschaft und die Wirtschaft gleichzeitig schützen – mit dem Ziel, den Schaden für alle zu minimieren.»
Arbeiten mit der Realität
Einfacher gesagt, als getan, wie die Auswirkungen des Lockdowns im Frühling zeigten. Berset räumt ein, dass das eine Gratwanderung ist – und er zeigt Verständnis für Verunsicherung und Unmut in der Bevölkerung: «Ja, die Unsicherheit, das Unbekannte – das alles ist mühsam. Aber das ist die Realität, und wir müssen damit arbeiten.» Ein Patentrezept zur Krisenbewältigung gebe es nicht.
«Auf Intensivstationen geht es nicht nur um die Anzahl von Betten und Beatmungsgeräten.
Berset warnt erneut vor den verheerenden Auswirkungen einer Überlastung der Spitäler. «Wir konnten das in anderen Ländern beobachten. Solche Bilder will niemand in der Schweiz sehen.» Zudem greife es zu kurz, sich nur auf die Anzahl von Betten und Beatmungsgeräten in Intensivstationen zu fokussieren. Denn die Betreuung schwer erkrankter Covid-19-Patienten sei äusserst personalintensiv. Auch hier drohe man irgendwann an Grenzen zu stossen.
Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie für angemessen hält. Das Vertrauen in die Demokratie ist intakt.
Doch auch der Bundesrat weiss: Es gibt Widerstand. «Manche Leute fordern, alles zu schliessen und dass niemand das Haus verlassen soll. Andere finden, dass das Virus gar nicht existiert. Beide Extrempositionen sind nicht haltbar für ein Land.»
Doch was sagt der BAG-Chef zu Stimmen, die Covid-19 mit einer schweren Grippe vergleichen? «Es ist zum Glück kein Virus, das die Hälfte der Bevölkerung töten würde. Aber es ist viel gravierender als eine Grippe.» Zudem seien Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen besonders von schweren Krankheitsverläufen bedroht.
Leben wir in einer «Expertokratie»?
Berset stellt weiter klar, dass er nicht seine persönliche Meinung wiedergebe. «Ich bin kein Arzt. Ich stütze mich auf die wissenschaftliche Taskforce des Bundes. Sie sagt eindeutig: Es ist eine ernstzunehmende Situation.» Die Schweiz verfüge über herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – diese seien in der Taskforce versammelt. «Von diesen Kenntnissen müssen wir profitieren.»
Der Bundesrat übersetze die Erkenntnisse der Wissenschaft in Politik. «Es gehört nicht zur Aufgabe der Science-Taskforce, die Politik zu führen. Wir fällen die Entscheide.» Die Maxime des Gesundheitsministers: Nicht übertreiben, aber auch nicht unterschätzen. Zudem würden auch Stimmen aus der Gesellschaft und der Wirtschaft berücksichtigt, versichert Berset.
Es ist eine Ehre, in so einer schwierigen Situation für das Land arbeiten zu dürfen.
Auf den Job von Exekutivpolitikern, die unpopuläre Entscheide mit möglicherweise gravierenden Folgen fällen müssen, ist derzeit niemand neidisch. Am Ende müssen sie Verantwortung übernehmen.
Schlaflose Nächte
Berset räumt ein, dass das nicht immer einfach ist. «Es ist ein Unterschied, eine Meinung zu haben oder entscheiden zu müssen.» Die Aufgabe sei sehr anspruchsvoll. «Ich bin aber auch dankbar. Es ist eine Ehre, in so einer schwierigen Situation für das Land arbeiten zu dürfen.»
Er wache immer wieder nachts auf und zweifle, ob diese Massnahme oder jene Verordnung die richtige sei: «Das Wichtigste in der Krisenbewältigung ist aber nicht, Fehler zu vermeiden – sondern Fehler so rasch wie möglich zu erkennen und zu korrigieren», schliesst Berset.