Die Schraube wird in verschiedenen Kantonen wieder angezogen. Wenn sich die Lage nicht verbessert, will auch der Bundesrat in einer Woche zusätzliche Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus beschliessen. Martin Ackermann, Leiter der Taskforce des Bundes, sah das Wachstum kommen.
SRF News: Neue Massnahmen erst in einer Woche – haben wir diese Zeit?
Martin Ackermann: Die Zeit ist extrem knapp. Das grösste und drängendste Problem im Moment ist die Kapazität der Intensivpflege. Wir sind heute noch etwa vier Verdoppelungen weg von der Kapazitätsgrenze bei den Intensivbetten. Das wäre beim jetzigen Tempo in etwa vier Wochen.
Die Kantone handeln schon diese Woche. Wir begrüssen das sehr.
Wäre es sinnvoll, einen Mini-Lockdown ins Auge zu fassen?
Diese Idee wird zurzeit von uns analysiert. Worauf unsere Experten aber immer wieder hinweisen: Wenn sich die Infektionen weiter ausbreiten, reduziert dies Konsum und Investitionen, unabhängig davon, ob ein Lockdown angeordnet wird. Das müssen wir bei unseren Überlegungen miteinbeziehen.
Wir müssten von 16 Ansteckungen etwa 7 verhindern. Das ist eine grosse Reduktion.
Die Wirtschaft leidet also so oder so, mit oder ohne Lockdown?
Ein Lockdown ist das Mittel der letzten Wahl, wenn die anderen Massnahmen fehlschlagen. Im Moment hat ganz klar Priorität, dass wir so schnell wie möglich mit Massnahmen reagieren, die ausreichend sind, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Das heisst: Wir müssen von 16 Ansteckungen etwa 7 verhindern. Im Moment stecken 10 infizierte Personen 16 weitere an. Diese Zahl müssen wir unter 10 bringen. Das ist eine grosse Reduktion.
Und wie soll das gelingen?
Die wichtigste Massnahme ist, die Kontakte zwischen Menschen zu reduzieren. Überall: im Geschäftsleben, im Privatleben, in der Freizeit. Und auch die Reduktion der Veranstaltungen und Veranstaltungsgrössen ist sehr wirkungsvoll. Das hat sich im Frühjahr gezeigt. Damals haben diese Reduktionen dazu beigetragen, dass die Fallzahlen rasch herunterkamen.
Anfang August haben Sie angesichts der Datenlage von einem Blindflug gesprochen. Weiss man heute, Mitte Oktober, besser, was zu tun ist?
Wir wissen viel mehr darüber, welche Massnahmen wirkungsvoll sind. Wir haben jetzt Einblick in die Wirksamkeit von Masken. Und wir wissen auch, dass Treffen in Innenräumen besonders grosse Risiken mit sich bringen.
Die Fallzahlen waren schon hoch. Es wurde immer schwieriger, gezielt Ansteckungsketten zu unterbrechen.
Wo wir immer noch im Blindflug sind, ist bei den Daten über die Ansteckungen. Das ist auch eine Konsequenz der hohen Fallzahlen. Die Kontaktverfolgung ist für die Kantone im Moment sehr schwierig.
Vor drei Wochen war die Lage in der Schweiz im europäischen Vergleich noch sehr gut. Nun nicht mehr. Was ist in diesen drei Wochen passiert?
Die Entwicklung kam nicht völlig unerwartet. Wir haben seit Anfang Juni ein exponentielles Wachstum der Epidemie in der Schweiz. Manchmal war es ziemlich langsam, aber es wurde dann Anfang Oktober viel schneller.
Die Massnahmen, die wir beibehielten, haben nicht ausgereicht.
Da sind wohl zwei Dinge geschehen. Erstens wurde es kühler, die Leute haben sich mehr drinnen aufgehalten. Wir wissen, dass in Innenräumen die Ansteckungen viel häufiger stattfinden. Zweitens waren die Fallzahlen schon hoch. Es wurde immer schwerer, gezielt Ansteckungsketten zu unterbrechen.
Im Vergleich zu anderen Ländern hatte die Schweiz eher sanfte Massnahmen ergriffen. Wurde zu stark auf Eigenverantwortung gesetzt?
Die Schweiz hat die Massnahmen sehr stark gelockert, stärker als die meisten anderen Länder. Es zeigt sich jetzt, dass die Massnahmen, die wir noch beibehalten hatten, nicht ausgereicht haben.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.