Rund 30'000 Neuansteckungen mit Corona pro Tag – aktuell grassiert das Virus in der Schweiz deutlich heftiger als in den meisten anderen westlichen Ländern. Wäre das zu verhindern gewesen? Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif), nimmt Stellung.
SRF News: 30'000 Fälle – das ist eine grosse Zahl. Aber wie relevant ist sie noch?
Christoph Berger: Bisher haben wir vor allem auf die Hospitalisationen geschaut, also die Kapazität im Gesundheitswesen. Das war massgebend für Massnahmen. Aufgrund der aktuell sehr hohen Fallzahlen müssen wir nun aber auch noch berücksichtigen, wie viele Leute im Berufsleben, in der Versorgung ausfallen.
Ist dies der Ruf des Fachmanns nach einer Notbremse?
Die Impfung ist eine der Massahmen in der Pandemie – für diese fühle ich mich verantwortlich. Und: Je mehr Geimpfte wir haben, desto weniger andere Massnahmen brauchen wir. Aber ohne geht es nicht. Noch wichtiger aber als die Massnahmen des Bundes ist es, dass sich die Bevölkerung an jene Massnahmen hält, die wir schon haben: Abstand halten, Kontakte meiden, Maske tragen. Ich würde auch Grossveranstaltungen meiden. Hier geht es auch um Eigenverantwortung.
Die Eidgenössische Kommission für Impffragen spielt bei der Bekämpfung der Pandemie eine Schlüsselrolle. Jüngst wurde viel Kritik laut – etwa in puncto Boostern: Hier habe die Schweiz zu lange gezögert. Ist das so?
Wir haben klar gesehen: Bei den über 65-Jährigen braucht es einen Booster, weil der Schutz nachlässt. Wir verfolgten ganz lange das Ziel, mit der Impfung das Individuum vor einer schweren Erkrankung zu schützen und so die Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten. Danach gab es einen Switch. Seither wollen wir nicht mehr nur den Individualschutz, sondern dass es allen besser geht. Das ist ein Strategiewechsel, den wir retrospektiv vielleicht zu spät gemacht haben.
Israel ist bereits bei der vierten Dosis, Frankreich diskutiert sie – ist das für Sie medizinisch nachvollziehbar?
Man kann damit kurzfristig einen hohen Schutz vor einer Ansteckung erreichen, aber dieser ist zeitlich extrem begrenzt. Mittelfristig müssen wir einen Weg finden, bei dem man die Impfung zum Schutz vor einer schweren Infektion braucht.
Aber auf welchen Impfrhythmus müssen wir uns einstellen?
Ich glaube nicht, dass wir uns auf Impfungen alle vier oder sechs Monate einstellen müssen. Irgendwann hat die Bevölkerung eine Grundimmunität gegen Sars-CoV-2. Und dann müssen wir wahrscheinlich und hoffentlich nur noch die besonders gefährdeten Menschen und Risikopersonen regelmässig impfen.
Topaktuell ist das Thema des Boosters für 12- bis 15-Jährige. In den USA, in Österreich und Israel ist die Auffrischimpfung für jene schon zugelassen, in der Schweiz noch nicht. Warum ist die Schweiz im Hintertreffen?
Die US-Behörde FDA hat die Auffrischimpfung zugelassen, die Europäische Arzneimittel-Agentur meines Wissens aber noch nicht. Die Ekif befasst sich mit dem Thema.
Die ungeimpften Erwachsenen können wir nicht mit der Impfung von Kindern und Jugendlichen kompensieren.
Wir müssen uns fragen: Was ist das Ziel des Boosters? Ungeimpfte 12- bis 15-Jährige müssen aufgrund von Covid nur ganz selten hospitalisiert werden, geimpfte noch viel seltener. Abgesehen von Long Covid verhindern wir bei jenen nicht Hospitalisationen oder schwere Verläufe. Sie müssen weniger in Isolation und Quarantäne und es ist ein Beitrag an die Viruszirkulation. Aber: Die ungeimpften Erwachsenen können wir nicht mit der Impfung von Kindern und Jugendlichen kompensieren.
Trotzdem: Sind Kinder inzwischen der Treiber der Pandemie?
Je mehr und kurzfristiger Erwachsene geimpft sind, desto relevanter wird die Viruszirkulation bei Kindern. Deshalb empfehlen wir die Impfung insbesondere Kindern, die mit Personen zusammenleben, die sich nicht impfen lassen können – ein Kind eines nierentransplantierten Vaters zum Beispiel.
Die Schweiz hat in dieser Pandemie häufiger langsamer agiert als andere Länder. Ist sie eine Trittbrettfahrerin oder – noch böser formuliert – eine Schmarotzerin?
Wenn man es negativ formulieren will, kann man dies bis zu einem gewissen Grad so sagen. Auf der anderen Seite: Wir waren bei vielen Entscheiden sehr aktiv dabei, etwa beim Impfstart an Weihnachten 2020. Und: Wir haben sehr dezidiert auf mRNA-Impfempfehlungen gesetzt – anders als andere Länder um uns herum.
Ist es denn auch eine Frage der Mentalität?
In Europa haben Portugal und Spanien ganz schnell hohe Impfraten geschafft. Das gelang den deutschsprachigen Ländern nicht.
Wir haben in der Schweiz einen sehr ausgeprägten Individualismus.
Das macht mir Sorgen. Ich glaube, wir haben in der Schweiz einen sehr ausgeprägten Individualismus. Das macht es schwierig, eine Empfehlung abzugeben. Es ist nicht die Mentalität der Schweiz, zu sagen: Geht impfen, sonst könnt ihr nicht mehr arbeiten oder zur Schule gehen.
Ihre Amtsdauer als Ekif-Präsident läuft noch bis ins Ende 2023. Ist die Pandemie bei den nächsten Wahlen Geschichte?
Das Virus wird bleiben, doch die Situation dürfte sich in den nächsten Monaten bessern. Bis die Normalität zurückkehrt, dürfte es aber im Minimum Winter werden.
Das Gespräch führte Eveline Kobler.