Die Corona-Neuinfektionen in der Schweiz steigen wieder stark an. Deshalb fordert der Bundesrat die Kantone und ihre Spitäler auf, die Kapazitäten auszubauen. Ist das möglich, und welche Rolle spielt dabei die Booster-Impfung? Infektiologe Huldrych Günthard gibt Auskunft.
SRF News: Wie beurteilen Sie die aktuelle Corona-Situation in der Schweiz?
Huldrych Günthard: Die Zahl der Neuinfektionen steigen gerade extrem stark an. Glücklicherweise steigen im Spital die Zahlen noch weniger, aber auch dort ist die Tendenz ganz klar steigend.
Auch die Belegungen auf den Intensivstationen nehmen zu.
Es gibt eine Korrelation mit der Zahl der Geimpften. Je mehr Geimpfte, desto weniger Hospitalisierte und Personen auf den Intensivstationen. Weil wir aber in der Schweiz ungenügend durchgeimpft sind, werden die Zahlen weiter zunehmen.
Bereitet Ihnen die aktuelle Situation Sorgen?
Ja, weil wir steigende Todeszahlen haben werden und zweitens, weil natürlich das Gesundheitswesen wieder stark belastet wird. Wir können nicht einfach mehr Kapazitäten bereitstellen – und wenn, dann nur auf Kosten von anders Erkrankten.
Der Bundesrat und auch die Gesundheitsdirektoren fordern, dass die Spitäler mehr Kapazitäten schaffen. Sind diese Forderungen realistisch?
Nein, sind sie nicht. Wenn der Bund uns mehr Leute gibt, schaffen wir mehr Kapazitäten. Wenn wir aber einfach so mehr Kapazitäten schaffen müssen, heisst das im Umkehrschluss, dass wir die Leute von irgendwo abziehen müssen.
Was erwartet uns in den nächsten Wochen?
Ich habe ein wenig Angst. Weil wir mit dem Booster hinterherhinken, müssen die Kapazitäten in Spitälern nun hochgefahren werden. Zudem scheint es so, dass jene Leute, die sich bisher nicht geimpft haben, sich auch weiterhin nicht impfen lassen wollen. Gut wäre es dennoch, und auch Genesene sollten sich impfen lassen, wie eine amerikanische Studie kürzlich gezeigt hat.
Wenn wir einen Blick über die Grenzen werfen, sehen wir erschreckende Zustände. Wird es uns ähnlich ergehen?
Wir werden eine deutliche Zunahme der Hospitalisierten und der Belegung der Intensivstationen erleben. Die Booster-Impfung wird uns nicht helfen, die Welle vollständig zu brechen – da sind wir mittlerweile zu spät. Zudem haben wir keine anderen Massnahmen im Programm.
Wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden wir solche Zustände wahrscheinlich in drei bis vier Wochen auch haben.
Eine Situation, wie sie sich aktuell in Österreich und Deutschland präsentiert, ist absolut wahrscheinlich. Wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden wir solche Zustände wahrscheinlich in drei bis vier Wochen auch haben.
Deutschland schlägt Alarm. Bayrische Krankenhäuser sind überlastet und derart überfüllt, dass Patienten in andere Spitäler verlegt werden müssen. Werden wir in der Schweiz gleiche Bilder sehen?
Ich denke ja. Wir liegen ein paar Wochen zurück, haben aber in etwa die gleiche Durchimpfung wie Deutschland. Zudem sind wir biologisch ja gleich; von dem her erwarte ich das Gleiche, wenn wir jetzt nichts unternehmen.
Was müsste getan werden, um das Schlimmste abzuwenden?
Die Booster-Impfung muss so weit wie möglich vorgetrieben werden, vor allem bei den Risikogruppen. Aber auch beim Gesundheitspersonal und bei den Jüngeren. Sie müssen sich ein drittes Mal impfen. Einerseits, damit sie geschützt sind vor Infektionen und diese nicht weitergeben. Andererseits aber auch, um schwere Verläufe zu verhindern.
Das Gespräch führte Thomas Pressmann.