Man kann sich die Verlockung für den Bundesrat plastisch vorstellen: Mit Lockerungen der Zertifikatspflicht (oder zumindest Ankündigungen darüber) gute Stimmung für das Covid-19-Gesetz zu machen, über das Ende November abgestimmt wird.
Doch die Regierung hat dieser Verlockung widerstanden und will die geltende Zertifikatspflicht frühestens Mitte November wieder zur Diskussion stellen. Und sie hat gute Gründe dafür angeführt: die kältere Jahreszeit, die vor der Tür steht, die Ferienrückkehrer, und vor allem die Infektionszahlen, die in vielen Kantonen bereits wieder steigen.
Wenn man bedenkt, dass vor einem Jahr genau um diese Zeit die Fallzahlen markant in die Höhe schossen – mit den bekannten Auswirkungen auf die Todesfall-Statistik und das Gesundheitssystem – scheint die Vorsicht des Bundesrats nachvollziehbar.
Mehr Personen profitieren von einem Zertifikat
Ein wenig gute Stimmung hat der Bundesrat heute dann doch noch gemacht: mit dem Vorschlag, die Gültigkeit des Zertifikats für Genesene von 180 auf 365 Tage zu erweitern. Und auch den Genesenen, die eine Infektion nur mit einem Antikörper-Test nachweisen können, ein beschränkt gültiges Zertifikat auszustellen.
Damit erweitert der Bundesrat den Kreis der Personen, die vom Zertifikat profitieren können – und die vielleicht deshalb auch Ja stimmen zum Covid-Gesetz. Und im besten Fall erhält er dadurch auch bessere Daten, wie viele Menschen in der Schweiz tatsächlich eine Covid-Infektion durchgemacht haben.
Kein Ausstiegsszenario
Nach wie vor weigert sich der Bundesrat aber beharrlich, Ausstiegsszenarien zu skizzieren, oder noch konkreter, Kriterien für die schrittweise Aufhebung der Massnahmen aufzustellen. Gesundheitsminister Alain Berset begründet das damit, die Geschichte der Pandemie habe gezeigt, dass man immer flexibel bleiben müsse.
Da hat Berset recht – aber vielleicht berücksichtigt er zu wenig, dass Menschen es nicht mögen, wenn sie dauernd hören, das Ziel sei in Sicht, sich gleichzeitig die Ziellinie aber immer weiter nach hinten verschiebt.
Zumal das einzige Kriterium, das der Bundesrat angibt – nämlich die Überlastung der Spitäler zu vermeiden – sich für viele nicht mehr erschliesst, wenn die Intensivstationen zu 72 Prozent ausgelastet sind und davon nur jeder fünfte bis sechste Patient ein Covid-19-Fall ist.
Vielleicht sollte der Bundesrat in dieser Hinsicht nochmals über die Bücher. Im vergangenen Frühling und Frühsommer konnte er schliesslich auch flexibel agieren, obwohl er klare Richtwerte für Öffnungen (oder allfällige Verschärfungen) aufgestellt hatte.