Die Steinfliege hat kürzlich vor Bundesgericht gewonnen. Zwei Oberwalliser Gemeinden wollten ihren Lebensraum am Wasser einschränken. Zwei Bäche hätten als Wasserkraft genutzt werden sollen. Doch das Bundesgericht pfiff die Walliser zurück. Sie müssen das Projekt überarbeiten. Die natürliche Heimat der Steinfliege sei zu respektieren, befand das oberste Gericht der Schweiz.
Für die Steinfliege, gegen grünen Strom
Für die Steinfliege gewehrt haben sich eine Umweltorganisation und eine Privatperson. Auch links-grüne Politikerinnen und Politiker engagieren sich gerne in Naturschutzverbänden. Dann geraten sie jedoch oft in ein Dilemma. Einerseits fordern sie eine links-grüne Energie-Politik, gleichzeitig bekämpfen sie mit den Umweltorganisationen Projekte für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Da wird ihnen dann vorgeworfen, sie seien Verhinderer und würden die Energiewende torpedieren.
Gegen diesen Vorwurf wehrt sich Ursula Schneider Schüttel. Die Freiburger SP-Nationalrätin ist auch Präsidentin der Umweltorganisation Pro Natura. Sie bestreitet, eine Verhinderin zu sein. Es müsse beides Platz haben, Naturschutz und die Energiewende. Dies sei wichtig für den Erhalt der Artenvielfalt und der Biodiversität.
Eine Energiewende um jeden Preis will sie nicht unterstützen. Doch sie weiss um ihr Dilemma, denn sie ist auch im Patronatskomitee der Wasserschutzorganisation Aqua Viva. Bei Aqua Viva hilft sie mit, den Bau eines Stausees am Triftgletscher im Berner Oberland zu stoppen.
Wir wollen auf erneuerbare Energien umsteigen, aber auch die Natur erhalten.
Doch eigentlich dürfte Schneider Schüttel das gar nicht. An einem Treffen mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat sie als Präsidentin von Pro Natura versprochen, dass ihr Verband Projekte wie den Trift-Stausee nicht bekämpfen wird. Für Schneider Schüttel ist das Stillhalteversprechen am runden Tisch mit Sommaruga nicht absolut.
Es sei immer noch möglich, sich zu wehren. Sie ist überzeugt, dass man die Energiewende anders schaffen kann: «Wir müssen Bestehendes mehr nutzen, statt in der unberührten Natur neu zu bauen.»
Die Energiewende wird jedoch nicht nur durch die links-grüne Seite gebremst, auch bürgerliche Politiker wehren sich gegen Ausbauprojekte. FDP-Nationalrat Kurt Fluri sitzt im gleichen Komitee bei Aqua Viva, in dem auch SP-Frau Schneider Schüttel ist. Im Komitee, das gegen den Trift-Stausee im Berner Oberland kämpft.
Trotz russischem Gas, trotz Energiewende müsse man den Landschaftsschutz im Auge behalten, sagt Fluri. Der Solothurner FDP-Nationalrat ist auch Präsident der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz. Dennoch ist er kein klassischer «Grüner», engagiert er sich doch gleichzeitig für Atomstrom: «Ich habe die Energiewende gar nie unterstützt.» Fluri hält den Ausstieg aus der Atomenergie für falsch. Ohne Atomstrom werde man auch die Klimaziele nie erreichen.
Ohne Atomstrom wird man die Klimaziele nie erreichen.
Doch nicht nur die Nationalräte Schneider Schüttel und Fluri blockieren die Energiewende. Manchmal harzt es auch in den Kantonen. Die Kantonsregierungen im Wallis und in Graubünden stellten sich vehement gegen Pläne von Bundesrätin Sommaruga, berichtete die «NZZ». Sommaruga möchte, dass neue Wasserkraftwerke schneller gebaut werden können. Sie will dafür die Verfahren verschlanken und die Einsprachemöglichkeiten einschränken.
Graubünden und Wallis wollen auch die Kraftwerke verstaatlichen, die Kantone wären dann Besitzer der Staumauern und Turbinen. Das finden jedoch die Betreiber der Kraftwerke gar nicht gut. Die Stromkonzerne wollen nicht in eine Anlage investieren, wenn sie ihnen gar nicht mehr gehört. Damit fehlt es am nötigen Geld und ohne diese Investitionen kommen die Bauwerke nicht vorwärts.
Trotz Bewilligung wird nicht gebaut
Projekte können auch verzögert werden, obwohl sie eigentlich bewilligt wären. So etwa im Kanton Graubünden: Das Energieunternehmen Repower hat ausgerechnet, dass ihr Pumpspeicherkraftwerk beim Lago Biancho auf dem Berninapass nicht rentabel wäre. Es könnte zwar etwa 80 Jahre lang genutzt werden, aber weil die Strompreise immer rauf und runter gehen, würde man auch in 80 Jahren nicht so viel einnehmen, um die Baukosten von zweieinhalb Milliarden Franken zu decken.
Bei Repower hofft man nun auf den Staat und neue Rahmenbedingungen, sagt Stefan Bisculm, Leiter der Medienstelle von Repower. Bis jetzt durften Bund und Kantone keine Investitionen in solche Bauwerke tätigen. Mit einer Gesetzesrevision hat der Bund die nötige Grundlage für Förderbeiträge geschaffen. Noch ist sie aber nicht in Kraft. Ob diese Beiträge ausreichen würden für den Bau am Lago Biancho? Da sei man sehr skeptisch, betont Bisculm.
Kompromiss nötig
Das Dilemma bleibt: Die Energiewende schaffen und gleichzeitig die Landschaft schützen. Wenn die Energiewende nicht gelinge, warnt SP-Nationalrätin Ursula Schneider Schüttel, dann würden die Klimaziele nicht erreicht. Und das wiederum würde bedeuten: Klimakatastrophe.
Doch auch sie hat kein Rezept zum Verhindern dieses Szenarios. Sie hält daran fest, dass beides möglich sein muss: Umweltschutz und Energiewende. Es bräuchte wohl einen gutschweizerischen Kompromiss. Ein solcher zeigt sich jedoch nicht – bis jetzt. Das bedeutet: Entweder die Steinfliege leidet oder die Energiewende gerät ins Stocken.