Die Schweiz müsse mehr tun, um die Menschen vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Dieser Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zugunsten der Klimaseniorinnen hat in der Politik für Empörung gesorgt.
National- und Ständerat haben schon im Sommer Erklärungen verabschiedet, wonach der Bundesrat diesem Urteil keine weitere Folge leisten soll. Auch heute war das Urteil Thema im Bundeshaus. Der Ständerat diskutierte die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und einen Vorschlag, gemäss dem sich der Gerichtshof wieder auf seine Kernaufgaben konzentrieren solle.
Ich bin selbst überrascht und enttäuscht von dieser sehr heftigen Reaktion.
Raphaël Mahaim war mittendrin, als die Klimaseniorinnen am 9. April ihren grossen Sieg feierten. Er ist einer der Anwälte der Klimaseniorinnen. Heute Mittwochmorgen verliess er seinen Platz im Nationalrat, durchquerte den Gang zum Ständerat und sass als Besucher in die EGMR-Debatte.
Er habe Kritik erwartet, sagte Mahaim kurz vor dem Gang in den Ständeratssaal, aber: «Dass die Diskussion jetzt in Richtung Kündigung der EMRK geht, also Angriff auf die Unabhängigkeit Richter, habe ich nicht erwartet.» Er sei überrascht und enttäuscht von der heftigen Reaktion.
Keine Notbremse ziehen
In der Debatte ging es mit dem Vorschlag von SVP-Ständerat Jakob Stark los. «Weil die Entwicklung in Strassburg seit Jahrzehnten in Richtung einer enormen Erweiterung der Anwendung der Menschenrechte in einer dynamisch-evolutiven Auslegung geht, ist es Zeit, die Notbremse zu ziehen», sagte Stark. Und als Notbremse müsse die Schweiz die Menschenrechtskonvention kündigen.
«Herr Kollege Stark, das ist ein starkes Stück», entgegnete Mitte-Ständerat Daniel Fässler. Bei allem Ärger über EGMR-Entscheide sollte sich die Schweiz nicht zur Kündigung hinreissen lassen.
Wir müssen nicht die Notbremse ziehen, sondern die Richtung des Gerichtshofs wieder ändern.
Das sah auch SP-Ständerat Daniel Jositsch so: «Herr Stark hat gesagt, wir müssen jetzt die Notbremse ziehen. Ich glaube, das wäre aufgrund eines Urteils übertrieben. Wir müssen nicht die Notbremse ziehen, aber wir müssen die Richtung des Gerichtshofs wieder ändern.» Denn wenn weitere Urteile wie jenes zu den Klimaseniorinnen gefällt würden, dann befürchte Jositsch, dass der Ständerat in Zukunft einer Kündigung zustimmen werde, und das möchte er «aus tiefster Seele nicht».
Denkzettel an EGMR
Das wollte heute auch der Ständerat nicht – er verwarf die Motion von SVP-Ständerat Stark deutlich. Hingegen wurde eine Motion von FDP-Ständerat Andrea Caroni klar angenommen, mit der der EGMR wieder an seine Kernaufgabe erinnert werden soll. Das soll durch die Verabschiedung eines Zusatzprotokolls zur Menschenrechtskonvention geschehen.
Das kann die Schweiz aber nicht alleine erreichen. Es braucht die Zustimmung aller 46 Mitgliedsstaaten. Auch der Bundesrat war für die Motion. Bundesratsmitglied und Justizminister Beat Jans gab aber zu bedenken: «Eine solche Änderung wird nicht so einfach zu erreichen sein.»
Schliesslich geht es um eine engere Kontrolle der Richter und das finde ich inakzeptabel. Das ist eine rote Linie.
Nach der Debatte hoffte Klimaanwalt Mahaim, dass sich die Schweiz nicht durchsetze: «Schliesslich geht es um eine engere Kontrolle der Richter und das finde ich inakzeptabel. Das ist eine rote Linie.» Caroni entgegnete, die Richter seien zum Teil aktivistisch unterwegs und überdehnen ihr Mandat. Man wolle sie wieder auf ihre Spur zurückbringen.
Vom Ständerat bis zum Klimaanwalt – die Meinungen zum EGMR gehen im Bundeshaus weit auseinander.