Wie unterschiedlich «Stealthing» in der Schweizer Rechtssprechung beurteilt wird, zeigt nur schon der Blick auf die Fälle, die bis jetzt vor Gericht gelandet sind. Im ersten Stealthing-Prozess 2017 im Kanton Waadt wurde der Angeklagte wegen Schändung verurteilt. In den anderen beiden Fällen, Anfang Jahr im Kanton Baselland und heute in Zürich, gab es einen Freispruch.
Das sei richtig so, findet Strafrechtlerin Nora Scheidegger von der Universität Bern, die sich intensiv mit dem Schweizer Sexualstrafrecht und insbesondere dem Phänomen Stealthing befasst hat. «Stealthing ist meines Erachtens keine Schändung. Dieser Tatbestand ist für Fälle gedacht, in denen jemand urteils- oder widerstandsunfähig ist; oder aber körperlich nicht in der Lage ist, sich gegen ungewünschte sexuelle Kontakte zu wehren.»
Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung gehören angemessen bestraft.
Bei Stealthing gehe es aber immer um einvernehmlichen Sex – die Frauen hätten dem Sex mit diesen Männern zugestimmt. Aber natürlich bedeute dies nicht, dass die Frau auch mit ungeschütztem Geschlechtsverkehr einverstanden sei, so Scheidegger – das dürfe der Mann nicht ausnützen. «Sexuelle Selbstbestimmung bedeutet, dass man frei entscheiden kann, mit wem man welche sexuelle Handlung haben möchte und diese Entscheidung auch respektiert wird. Das ist beim Stealthing nicht der Fall.»
Für eine Reform des Sexualstrafrechts
Dass dies in der Schweiz bis jetzt nicht im Strafgesetzbuch klar geregelt ist,
bezeichnet Scheidegger als störend. «Natürlich muss man nicht das Schlafzimmer mit dem Millimeterpapier des Strafrechts ausmessen. Aber Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung gehören angemessen bestraft.» Deshalb müsse das Sexualstrafrecht entsprechend reformiert werden, fordert die Strafrechtlerin.
Entsprechende Diskussionen laufen bereits im Bundeshaus. Demnächst befassen sich die Kommissionen für Rechtsfragen von Nationalrat und Ständerat mit einer Reform. Die Zürcher SP-Nationalrätin Min Li Marti von der nationalrätlichen Kommission ist klar dafür; zum Beispiel brauche es eine neue Definition von Vergewaltigung.
Auf Anfrage sagt Marti, in diesem Rahmen müsse man auch prüfen, ob die Bestrafung von Stealthing möglich sei. Der Bundesrat äusserte sich kürzlich in einer Antwort auf einen Parlaments-Vorstoss aber eher ablehnend. Er sehe derzeit keinen Reformbedarf.
Gegen eine Reform
Dieser Meinung ist auch die Zürcher Strafrechtsanwältin Tanja Knodel, die sowohl Opfer als auch Angeklagte in Sexualstraffällen vertreten hat. «Aus meiner Sicht ist das Sexualstrafrecht ausreichend. Man darf nicht einfach von einer grundsätzlich strafbaren Gesellschaft ausgehen.»
Es braucht Eigenverantwortung, gerade auch beim Sex.
Natürlich sei Stealthing nicht in Ordnung, so Knodel, und sie habe ein gewisses Verständnis dafür, dass Frauen das bestraft haben wollen. «Aber ich bin ganz klar dagegen, dass wir immer alles strafbar machen. Es braucht diese Eigenverantwortung gerade auch beim Sex. Wenn wir da zu sehr mit dem Strafrecht agieren, werden wir in ein paar Jahren keinen Sex mehr haben – oder nur noch solchen, der so stark abgesichert ist, dass jegliche Erotik verloren geht.»
Für eine gewisse Klarheit dürfte aber bald das höchste Gericht der Schweiz sorgen. Die zuständige Staatsanwaltschaft will den Freispruch im Zürcher Stealthing-Fall nun genau prüfen – ein Weiterzug ans Bundesgericht sei wahrscheinlich.