Wir sind in einer ausserordentlichen Lage. Der Bundesrat, die Exekutive, hat ausserordentliche Macht. Eine Macht, die in normalen Zeiten wohl austariert ist zwischen Exekutive, Legislative und Judikative. Gleichzeitig nimmt uns der Staat grundrechtliche Freiheiten: Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Gewerbefreiheit. Das passiert zwar aus guten Gründen – kann aber durchaus folgenschwer sein. Francis Cheneval über die Gefahren einer Unterwerfungsmentalität gegenüber Exekutiven und Wissenschaftlern.
SRF News: Was denkt sich ein Polit-Philosoph, wenn er dem Bundesrat zuschaut, wie er im Alleingang regiert?
Francis Cheneval: Einerseits habe ich Bedenken über bestimmte Auswirkungen dieser besonderen Lage auf die Mentalitäten und auf unser System. Andererseits sehe ich die Notwendigkeit und das Positive, das ich diesem Prozess abgewinnen kann. Auch für unser System.
Apokalyptische Untergangsszenarien können die Gesellschaft bedrohen. Man gerät in eine geistige Achtungsstellung vor der Regierung.
Welche Bedenken haben Sie bezüglich der Mentalitäten?
In Situationen wie der jetzigen kann Angst zu einer Unterwerfungsmentalität führen. Eine «servitude volontaire» («freiwillige Knechtschaft»), wie sie Étienne de La Boétie genannt hat. Apokalyptische Untergangsszenarien können die Gesellschaft bedrohen. Man gerät in eine geistige Achtungsstellung vor der Regierung. Solche Bedenken hatte ich auch, als das Parlament auf Tauchstation ging.
Nun ist das Parlament wieder da, zumindest ein bisschen. Im Kanton Zürich hat es bereits wieder getagt, andere werden folgen, im Mai das nationale Parlament. Wie wichtig ist es, dass die Parlamente nachträglich absegnen, was die Regierung beschlossen hat?
Das gehört zur Rechtsförmigkeit des Ausnahmezustands, wie wir ihn jetzt haben. Die nachträgliche Rechenschaftspflicht muss greifen. Das Parlament muss die Kontrolle der Exekutive wahrnehmen und ist nicht nur für die langfristige Steuerung der Gesetzgebung zuständig.
Sollte die Politik nicht einfach tun, was die Virologen und Epidemiologen vorschlagen?
Sicher ist es in solchen Situationen angebracht, dass die Wissenschaft viel stärker in der Politik mitredet, als sie es sonst macht. Die Gefahr ist aber, dass auch die wissenschaftlichen Diskussionen eng geführt werden – dass eine freie Debatte über Interpretation von Zahlen und das fachübergreifende Gespräch in der Wissenschaft nicht mehr stattfinden. Man droht, nur noch auf einige Wissenschaften und einige Wissenschaftler zu hören.
Die Politik hat Autorität und muss sorgfältig damit umgehen. Das passiert nicht in allen Ländern gleich. Autoritäre Staaten beschliessen zum Teil sehr radikale Massnahmen. Werden diese Regime durch die Corona-Krise gestärkt?
Es gibt viele unterschiedliche Typen von autoritären Regimen. Es gibt einen technokratischen Autoritarismus, in dem eine herrschende Elite wissenschaftsbasiert und ergebnisorientiert regiert. In wissenschaftlicher Hinsicht erbringt sie auch gute Leistungen. Vor allem in Asien gibt es aufgeklärte Despotien vom Typ Singapurs. Ich glaube, dass diese Systeme gestärkt aus der Krise hervorgehen. Sie profitieren von der Wissenschaftsorientierung.
Dann gibt es autoritäre Regime, die auf identitärem Autoritarismus beruhen. Zum Beispiel religiös-identitärem Autoritarismus wie im Iran oder auch Länder, die eher politisch autoritär aufgebaut sind, wie etwa Brasilien.
Die Notwendigkeit von staatlichen, öffentlichen Institutionen wurde in dieser Krise allen wieder vor Augen geführt.
Diese Regime agieren zum Teil anti-wissenschaftlich und leugnen Klimaeffekte oder nun sogar das Virus. Sie meinen, Gesundheitspolitik ähnlich betreiben zu können wie Identitätspolitik. Zum Teil ergreifen sie trotzdem drastische Massnahmen. Diese sind aber eher wirkungslos und treiben die ohnehin schon arme Bevölkerung in die Misere. Solche Regime könnten durch die Corona-Krise geschwächt werden.
Aber was wohl in allen Ländern gleich ist: Den Bürgerinnen und Bürgern wird bewusst, dass ein funktionierender Staat notwendig ist, um eine solche Krise zu bewältigen?
Alle teilen eine Einsicht: Bestimmte öffentliche Grundgüter wie die Pandemiebekämpfung können nur gewährleistet werden, wenn ab einem gewissen Zeitpunkt politische Autorität ausgeübt wird. Und dass diese besonders legitim ist, wenn sie ausgeübt wird, um die öffentlichen Güter bereitzustellen. Die Notwendigkeit von staatlichen, öffentlichen Institutionen wurde in dieser Krise allen wieder vor Augen geführt.
Wenn der Staat Kompetenzzuwachs hat, gibt er diesen nur schwer wieder aus den Händen.
Der Staat muss unsere grundrechtlichen Freiheiten nicht gewähren, sondern gewährleisten. Nun entzieht er sie uns in Teilen, wenn auch aus guten Gründen. Und der Einzelne muss sich für seine Freiheiten rechtfertigen. Ist das nicht eine verkehrte Welt?
Das birgt die Gefahr in sich, dass die Grundrechte nicht wieder zurückkommen; dass die zeitlich begrenzte Einschränkung im Namen von Grundgütern auf Dauer Bestand hat und der Staat dann die Freiheitsrechte nicht mehr gewährt. Man muss aufpassen, dass sich diese Mechanismen und Machtpraktiken nicht im System zementieren.
Sehen Sie diese Gefahr in der Schweiz?
Es ist zu früh, das zu sagen. Wenn der Staat Kompetenzzuwachs hat, gibt er diesen nur schwer wieder aus den Händen. Es gibt Pfadabhängigkeiten, Strukturen verfestigen sich. Diese Gefahr besteht. Aber eher in administrativen Zwängen, die bleiben könnten. Grundsätzlich erkenne ich keine Aushöhlung. Ich sehe noch keine Tendenz, dass wir vergessen, wie wichtig unsere offene Gesellschaft ist und was wir an ihr haben.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.