SRF: Mario Gattiker, wie erklären Sie sich die massive Zunahme von Asylgesuchen im Juli?
Mario Gattiker: In diesen Zahlen spiegeln sich die vielen Krisen an den Rändern Europas, etwa in Syrien, dem Irak, im Mittleren und Nahen Osten, aber auch in Libyen. Zusammen mit der hohen Zahl an Anlandungen in Italien führt dies zu einem Migrationsdruck, der sich in hohen Gesuchszahlen niederschlägt.
Es wurden vor allem Asylgesuche aus Syrien erwartet, diese gehen aber zurück. Dafür nehmen Gesuche von Eritreern massiv zu. Wie kommt das?
Das hat ebenfalls mit den Anlandungen in Italien zu tun, wo ein Drittel der Flüchtlinge aus Eritrea kommt. Wir haben eine Weiterwanderung in die Schweiz, weil hier schon eine Diaspora von rund 20'000 eritreischen Flüchtlingen besteht.
Kann man diese hohe Zahl an Flüchtlingen in den Empfangszentren des Bundes bewältigen?
Wir sind sicher stark herausgefordert, aber noch nicht in einer ausserordentlichen Situation. Wir sind in der Lage, die Registrierung und Unterbringung sicherzustellen. Es ist aber klar, dass wir unsere Kapazitäten auch erweitern mussten und sind mit den Kantonen in Kontakt, um weitere Unterbringungskapazitäten bereitzustellen.
In welchem Umfang braucht es zusätzliche Kapazitäten?
Unsere Prognose beläuft sich auf rund 24'000 Asylgesuche in diesem Jahr, mit einem Spielraum von 2'000 zusätzlichen Gesuchen. Mit der momentanen Entwicklung dürfte dieser Spielraum bis Ende Jahr nach oben ausgeschöpft sein. Daher müssen sich Bund und Kantone auf Eventualplanungen vorbereiten.
Es sind viele verletzliche Personen, viele Familien, die Asylgesuche stellen. Verändert das die Situation?
Die überwiegende Mehrheit der neuen Asylsuchenden stammt aus Krisengebieten, aus Kriegen. Da ist die Zahl der verletzlichen und traumatisierten Personen naturgemäss viel höher. Das stellt höhere Anforderungen an die Betreuung und medizinische Unterstützung dieser Menschen.
Im Juli wurden 2000 Gesuche für die Rückführung von Flüchtlingen in Dublin-Staaten gestellt. Tatsächlich durchgeführt wurden 192 Rückführungen. Wie kommt es zu diesem krassen Missverhältnis?
Die Zahl der Überstellungen bewegt sich im normalen Bereich. Wir werden alles daran setzen, dass gerade in Zeiten zunehmender Asylgesuche das Dublin-Abkommen gut funktioniert.
Es heisst, Italien registriere ihre Flüchtlinge zunehmend nicht mehr. Stimmt das?
Wegen der logistischen Probleme, die die grosse Zahl an Anlandungen verursachen, kann Italien nicht mehr alle Flüchtlinge registrieren. Das merken wir auch in der Schweiz:
Der Abklärungsaufwand, um festzustellen, woher eine Person eingereist ist – und das ist die Grundlage für eine Rückführung eines Flüchtlings in einen Dublin-Staat – wird ungleich grösser, wenn diese Person nicht bereits in einer Fingerabdruck-Datenbank registriert ist.
Wie sind Ihre Prognosen für die Zukunft?
Die Krisen und Konflikte an den Rändern Europas sind zahlreich. Deshalb wird der Migrationsdruck auf Europa in nächster Zeit anhalten. Die Situation in Italien ist aber sehr stark abhängig von der Situation in Libyen, hier kann sich die Lage schlagartig ändern. Deshalb ist es sehr schwierig, Prognosen zu stellen.
Das Interview führte Philipp Burkhardt