Volle Badis und Bergbahnen, Partys im Wald oder mitten in der Stadt und auch in den Nachtclubs wird gefeiert, bis der Arzt kommt: Besonders das vergangene Wochenende hat gezeigt, dass die Corona-Disziplin in der Schweiz schwindet. Abstände werden viel weniger eingehalten als noch vor ein paar Wochen.
Verhaltensökonomin Dorothea Kübler erklärt dies damit, dass die Pandemie in ein neues Stadium getreten sei. «Es wird zunehmend schwierig, sich selber und auch andere zu motivieren.»
Mit der Aufhebung des Lockdowns in vielen Ländern verblassen die Schreckensbilder vom Höhepunkt der Coronakrise in Europa. Die Bedrohung wird abstrakt. «Es verbreitet sich das Gefühl: Wir können alles wieder machen und es passiert nichts», so Kübler. «Und das ist trügerisch, wie man an neuen Ausbrüchen sieht.»
Aus den Augen, aus dem Sinn
Das Phänomen, das derzeit nicht nur in der Schweiz zu beobachten ist, hängt demnach mit einer Art Dominoeffekt zusammen. «Bedingte Kooperation» nennt es die Verhaltensökonomie. Kübler führt ein Beispiel auf: «Wenn andere anfangen, nicht mehr Masken zu tragen, fragt man sich selber, warum man sich mit der Maske rumquält.»
Dieser Mechanismus beschleunige die Erosion der Verhaltensregeln. Obwohl die Behörden eindringlich dazu aufrufen, diese weiter strikt einzuhalten. Dass davon beim bierseligen Grillfest oder in der Badi wenig zu spüren ist, ist für die Wissenschaftlerin nur menschlich.
Wir haben noch nicht wirklich gelernt, mit diesen neuen Regeln im Alltag umzugehen.
Denn unser lebenslang eingeübter sozialer Kodex lässt sich nicht auf Knopfdruck ausschalten. «Wir haben noch nicht wirklich gelernt, mit diesen neuen Regeln im Alltag umzugehen und sie so einzubauen, dass sie nicht feindselig wirken», sagt die Ökonomie-Professorin an der Technischen Universität Berlin.
In der «neuen Normalität» vollzieht sich nämlich Gewöhnungsbedürftiges. Wer im Laden einen weiten Bogen um andere Kunden macht, erntet manch bösen Blick. Genauso wie die Frau, die im Zug einsam in der Ecke sitzt und Mundschutz trägt.
Viele der Situationen liessen sich mit einem Lächeln oder einem freundlichen Augenzwinkern entschärfen, sagt Kübler aus eigener Erfahrung. So könne mitgeteilt werden, dass man wegen der Corona-Gefahr Abstand halte. «Das alles müssen wir verstärkt einüben. Wenn man das nicht macht, rutscht man schnell in die alte Normalität – und das ist gefährlich.»
Mit der weiteren Lockerung der Corona-Massnahmen appelliert der Bundesrat auch beim Maskentragen an die Eigenverantwortung der Bevölkerung. Anders etwa als in Deutschland, wo im ÖV Maskenpflicht herrscht.
Doch auch diese wurde nach anfänglicher Disziplin immer weniger eingehalten, so die deutsche Forscherin: «Viele dachten sich wohl: Wenn es nicht alle machen, warum muss ich es dann machen?» Berlin hat inzwischen reagiert und stellt Bussen aus für Leute, die keine Maske im ÖV tragen.
«Schöner wäre natürlich, wenn es ohne Bussen gehen würde», sagt die Expertin für Entscheidungsverhalten. Aber: Für Gruppen sei es manchmal einfacher, wenn es klare Standards gebe: «Man muss dann auch nicht mehr über die Schwäche der menschlichen Moral philosophieren.»