Sasha Volkov gehen die Ereignisse der letzten Tage nahe, das spürt man sofort. Er spricht von einer «nationalen Erniedrigung», der Ukraine, die allerdings nicht erst jetzt begonnen habe, sondern bereits vor acht Jahren. «Es heisst, wir stünden heute an einem historischen Wendepunkt», sagt Volkov in der SRF-Sendung «Club». «Doch für mich als Ukrainer war dieser Wendepunkt an jenem Tag 2014, als Wladimir Putin die Sonderoperation für die Besetzung der Krim losgetreten hat.»
Volkov wurde in der Ukraine geboren, lebt seit über 20 Jahren in der Schweiz und ist Doppelbürger. Er hat Freunde und Familie in verschiedenen Regionen der Ukraine, unter anderem im umkämpften Osten und auf der Krim; seine Eltern leben etwas ausserhalb der Hauptstadt Kiew. Angst hätten seine Eltern nicht, da sie nicht davon ausgingen, dass ein Angriff auf Kiew unmittelbar bevorstehe. Was überwiege, sei das Gefühl der Empörung.
Falls Putin mit seiner Politik bezweckt habe, dass sich die russischsprachige Bevölkerung der Ukraine wieder verstärkt Russland statt dem Westen zuwende, so habe er genau das Gegenteil bewirkt, sagt Sasha Volkov. Er selbst und viele seiner Freunde und Verwandten gehören der russischsprachigen Minderheit an. Vor knapp 20 Jahren sei er der Einzige aus seinem Umfeld gewesen, der einen Beitritt der Ukraine zum westlichen Verteidigungsbündnis Nato befürwortet habe. «Heute sind alle für einen Beitritt zur Nato. Das hat Wladimir Putin erreicht.»
Aus Sicht der russischen Regierung sei diese zunehmende Annäherung der Ukraine an den Westen auf mehreren Ebenen problematisch, erklärt Osteuropa-Historiker Jeronim Perović. Durch die Osterweiterung der Nato, den schrittweisen Beitritt von insgesamt 14 osteuropäischen Ländern seit 1999, sei die Pufferzone um Russland immer dünner geworden, die westlichen Waffensysteme immer näher an Russland herangerückt.
Putin sei bei Weitem nicht der Einzige, der dies ablehne. «Alle russischen Politiker sind gegen diese Erweiterung, von den Liberalen über die Kommunisten bis zu den Nationalisten. Jeder Präsident Russlands würde das so sehen wie Putin», so Perović.
Als Reaktion auf die Ausweitung der Nato und der EU gegen Osten habe Putin die Idee einer «Eurasischen Union» entworfen – ein Gegenprojekt zu den westlichen Bündnissen. Diese Union gebe es zwar mittlerweile, doch die Ukraine sei ihr nie beigetreten, trotz langjähriger russischer Bemühungen. «Deshalb bearbeitet Putin die Mythen, dass die Ukrainer und die Russen ein grösseres Volk seien, das zusammengehöre. Damit will er solche Schachzüge rechtfertigen, wie wir sie jetzt in der Ostukraine sehen.»
Der Konflikt droht zu eskalieren
Putin riskiere enorm viel, sagt Perović. Europa habe seit dem Zweiten Weltkrieg schon andere militärische Konflikte erlebt, im Balkan und im Kaukasus. «Doch kein Konflikt hatte ein solches Eskalationspotential.» Mit Sanktionen allein könne man dem nicht beikommen. Man müsse auch mit Russland reden.
Sasha Volkov bezweifelt, dass dies etwas bringt: «Für Putin ist Politik ein Nullsummenspiel, das ist sein Weltverständnis. Er glaubt nicht daran, dass die Menschen voneinander lernen und miteinander weiterkommen können.»