Seit Jahren wird das Bündner Bergdorf Brienz/Brinzauls von einem Bergsturz bedroht. Lange haben Behörden, Bevölkerung und Fachpersonen die Lage beobachtet.
Bis es in den vergangenen Tagen schnell ging: Am Freitagmittag hat die zuständige Gemeinde Albula/Alvra die rote Phase ausgerufen. Das bedeutet: Das Dorf Brienz/Brinzauls darf seit Freitag 18 Uhr nicht mehr betreten werden.
Wie ist es so weit gekommen? Ein Rückblick.
Vor 1877: «Das Dorf Brienz/Brinzauls ist seit Menschengedenken in Bewegung», schreibt die Gemeinde Albula/Alvra. Die gesamte Terrasse rutsche wohl seit der letzten Eiszeit talwärts, in den vergangenen 100 Jahren vermutlich jeweils wenige Zentimeter pro Jahr.
1877 bis 1955: Seit über 140 Jahren bewegen sich gemäss den Angaben der Gemeinde auch die Hänge oberhalb des Dorfes. Auslöser waren wohl Abholzungen, die nach dem Brand von Brienz/Brinzauls 1874 erforderlich wurden. Im Jahr 1877 begann nordöstlich des Dorfes eine Felsmasse von rund 13 Millionen Kubikmetern talwärts zu rutschen. Da die Rutschung – heute «Igl Rutsch» genannt – relativ langsam und über mehrere Wochen erfolgte, kamen keine Menschen zu Schaden.
Beim Jahreswechsel zwischen 1878 und 1879 sowie von 1902 bis 1907 war die Bewegung wohl am intensivsten. Offenbar drang der Schuttstrom damals täglich etwa einen Meter vor. Zwischen 1947 und 1955 hat sich die Bewegung wieder beruhigt. Der Grund: Der Bau von Drainagen und Aufforstungen.
Dezember 2008: «Hörst du? Jetzt kommt der Berg.» Diese Worte sagte die Ehefrau von Armin Plüss, einem Augenzeugen aus Brienz/Brinzauls, im Dezember 2008. Damals stürzten schwere Steine in Richtung Bergdorf. Schon damals sagte Robert Müller, Beamter vom Tiefbauamt Graubünden: «Wir befinden uns in einem seit Jahrzehnten sehr aktiven Gebiet. Unsere Leute beurteilen die Lage laufend.»
Brienz/Brinzauls selber war vom Felssturz nicht betroffen. Die Strasse nach Chur wurde allerdings gesperrt, auch der öffentliche Verkehr war zwischenzeitlich abgeklemmt.
2017 bis 2019: Die Behörden erklären Brienz/Brinzauls im Mai 2017 zur roten Zone. Nun dürfen keine Neubauten mehr errichtet werden. Da sich auch das Dorf bewegt, kommt es vereinzelt zu Gebäudeschäden. Zwei Jahre später geht aus Messungen hervor: Das Bergdorf rutscht über einen Meter pro Jahr talwärts. Die Bewegungen haben sich intensiviert.
Im August des gleichen Jahres löst sich ein 100 Tonnen schwerer Felsbrocken, doch die Dorfbevölkerung atmet auf: Es kommt zu keinen Schäden.
2021 bis 2023: Die Behörden reagieren auf stärkere Bewegungen. Unter anderem soll ein über 600 Meter langer Sondierstollen die Situation entschärfen. Das kostet: Der Kanton beteiligt sich mit 9.5 Millionen Franken am Bau, insgesamt liegen die Kosten bei rund 14 Millionen Franken, wie die «Südostschweiz» schreibt. Später soll er zu einem Entwässerungsstollen ausgebaut werden, die Bauarbeiten beginnen voraussichtlich im Frühling 2024. Das Bündner Parlament spricht einen Kredit von 40 Millionen Franken.
Im vergangenen Monat dann die Warnung der Gemeinde Albula/Alvra: Bis im Frühsommer könnte sich ein Bergsturz ereignen. Einige Tage später informiert man über die «sehr beunruhigende» Lage.
Anfang dieses Monats wird die Gefahrenlage nach und nach erhöht – von «Gelb» am 5. Mai über «Orange» am 9. Mai bis zu «Rot» am 12. Mai. Nun ist das Bergdorf evakuiert worden. Wann die Bevölkerung zurückkehren kann, ist noch unklar.