Das Dorf Brienz/Brinzauls (GR) wird von einem Felssturz bedroht, die Einwohner sind evakuiert worden. Der Geologe Hugo Raetzo überwacht schweizweit Berge und Hänge, die zu rutschen drohen. Im Interview erklärt er, wie das funktioniert und ob ihm seine Arbeit auch mal Angst macht.
SRF News: Hugo Raetzo, 2010 Gondo (VS), 2017 Bondo (GR) und nun Brienz/Brinzauls. Welcher Hang kommt als Nächstes?
Hugo Raetzo: Generell rechnen wir dort, wo sich die Gletscher zurückziehen und der Permafrost schmilzt, mit weiteren Rutsch- und Sturzereignissen. Was als Nächstes kommt, können wir nicht sagen, es gibt mehrere Gefahrenstellen. Zum Beispiel bei Derborence (VS) oder Kandersteg (BE) bewegen sich Gesteinsmassen. Es ist wahrscheinlich, dass es zu weiteren Abstürzen kommen kann.
Wie gefährlich sind unsere Berge?
Wenn man die Gefahren nicht kennt, ist es möglich, dass man unbewusst Risiken eingeht. Darum sind Gefahrenkarten und Überwachungsdaten wichtig. In der Schweiz gibt es rund 4100 Quadratkilometer aktive und inaktive Rutschflächen. Die meisten sind ungefährlich, und oft sind keine Menschen betroffen. Die Situation in Brienz (GR) ist ausserordentlich.
Wie überwachen Sie diese Orte?
Mit viel Technik. Mit Satellitendaten versuchen wir, einen Überblick zu haben. Wir können nicht jeden Stein oder jeden Hang überwachen, aber dies gibt eine erste Übersicht und neue Rutschungen werden erkannt. Basierend auf diesen Grundlagen muss man dann konkret den Hang untersuchen und Instrumente hinstellen. Das sind zum Beispiel GPS und Spiegel, mit denen man Bewegungen messen kann. Es gibt aber auch Fälle, wo niemand mehr hingehen kann, weil es zu gefährlich ist. Mittlerweile gibt es Radargeräte, die aus der Ferne Veränderungen am Berg messen können.
Wie entscheidet man, ob man ein Dorf rettet oder der Natur überlässt?
Man berechnet die Risiken aufgrund eines Gefahren- und Schadenpotenzials. Dazu gehören Menschen, Bauten und Anlagen. Die Kosten für Schutzmassnahmen fliessen in die Berechnung ein. Man wägt den Nutzen gegenüber den Kosten ab und bezieht auch technische, ökologische und soziopolitische Aspekte ein. So entscheidet man, wie viel investiert werden soll, um ein Dorf zu retten.
Was ist ein gerettetes Menschenleben wert?
Das ist eine schwierige, ethische Frage, in die verschiedene Überlegungen einfliessen, unter anderem auch finanzielle Annahmen. Dabei gehen wir von rund sechs Millionen Franken für ein gerettetes Menschenleben aus.
Welche Präventionsmassnahmen gibt es?
Bei Bergstürzen ist die wichtigste Prävention die Überwachung. Denn wir können den Berg nicht zurückhalten. In Brienz/Brinzauls wurde zusätzlich ein Sondierstollen gebaut, der Wasser aus dem Boden zieht. Damit verlangsamt sich die Rutschung.
Müssen wir uns daran gewöhnen, dass die Berge irgendwann kommen?
Aufgrund der Klimaerwärmung müssen wir mit mehr Rutschbewegungen in den Bergen rechnen. Sie führt auch zu stärkeren Gewittern und intensiven Niederschlägen, die mehr spontane Rutschungen auslösen können. Auch Hochwasser können extremer werden.
Sie beschäftigen sich seit 36 Jahren mit Naturgefahren. Macht die Entwicklung der Gefahrensituation Angst?
Ich kann beurteilen, was am Hang passiert und kann Risiken einschätzen. Darum bewege ich mich auch risikobewusst in den Bergen. Aber wir können nicht alles voraussehen und kontrollieren. Wir müssen vor der Natur und den Prozessen Respekt haben.
Das Gespräch führte Noemi Hüsser.