Als Aline merkt, dass sie sich im gleichen Asylzentrum in Genf befindet wie der Mann, der für die Massaker an Hunderttausenden ihrer Landsleute mitverantwortlich ist, erfasst sie Panik: «Das war ein Riesenschock. Wie wenn man plötzlich vor Hitler stehen würde.»
Im August 1994 ist die damals 19-jährige Aline, die ihren richtigen Namen nicht nennen will, gerade in der Schweiz angekommen. Aline ist Tutsi und hat darum Schutz gesucht in der Schweiz, um nicht von Hutu-Extremisten wie Félicien Kabuga umgebracht zu werden. Innerhalb von 100 Tagen wurden in Ruanda damals rund 800'000 Menschen niedergemetzelt.
Auch heute, 28 Jahre später, ist für Aline klar: Im Fall Félicien Kabuga hat sich die Schweiz der Mittäterschaft schuldig gemacht. Sie hat dazu beigetragen, dass einer der Hauptdrahtzieher des Völkermords in Ruanda von 1994 sich mehr als ein Vierteljahrhundert lang der Justiz entziehen konnte.
Der «Financier des Genozids»
Während Jahren war Félicien Kabuga einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt, Kopfgeld fünf Millionen US-Dollar. Der damals wohl reichste Mann Ruandas gilt als «Financier des Genozids». Félicien Kabuga hat die Radiostation Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) mitgegründet, mitfinanziert und war deren Präsident.
RTLM hat in ganz Ruanda Völkermord-Propaganda verbreitet. Ausserdem soll der Geschäftsmann Tausende Kalaschnikows und Macheten importiert und verteilt haben. Seit Ende September steht Félicien Kabuga deswegen vor dem Nachfolge-Gericht des Ruandatribunals.
Wie konnte Kabuga in die Schweiz einreisen?
Félicien Kabuga verlässt Ruanda 1994 in Richtung Schweiz; zu diesem Zeitpunkt sind rund 800'000 Tutsis und gemässigte Hutus tot, brutal ermordet.
Die Weltöffentlichkeit ist entsetzt über die Gräueltaten. Die Schweiz aber stellt Kabuga ein Visum aus und lässt den mutmasslichen Völkermörder einreisen.
Urs Blösch, der damalige Leiter des Ruanda-Programms der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, der heutigen DEZA, entdeckt den Namen Kabuga im Juni 1994 auf der Visumsliste der Schweiz: «Ich war natürlich entsetzt und sagte den Leuten: «Wisst ihr eigentlich, wer dieser Mann ist?» Aber die anderen wussten nicht, wer er war.
Auch, wenn man das zu diesem Zeitpunkt hätte wissen können, so Blösch: «Der Mann war absolut bekannt.» Nach Blöschs Intervention setzt das Departement für auswärtige Angelegenheiten, das EDA, Kabuga auf eine Liste von in der Schweiz «unerwünschten Personen».
Dennoch können Félicien Kabuga und seine Familie ungestört in die Schweiz einreisen – aufgrund undurchsichtiger Entscheidungen in der Bundesverwaltung.
Undurchsichtige Nähe: die Affäre Hunziker
Im Nachhinein stellt sich heraus: Der damalige Chef des Bundesamtes für Ausländerfragen BFA, der das Visum eigenhändig erteilt, ist ein Bekannter des Schwiegersohns von Félicien Kabuga. Kabugas Schwiegersohn, Fabien Singaye, ist damals Diplomat in der Schweiz und hat den Chef des BFA, Alexandre Hunziker, mehrfach zum Essen getroffen.
Auch wird später bekannt, dass das BFA vor der Visumsausstellung keinerlei Abklärungen getroffen und sich nur die Vermögenssituation der Familie Kabuga angeschaut hat. Beim reichsten Mann Ruandas kein Hindernis für ein Visum. Und klar wird: BFA-Chef Hunziker gibt die Liste der in der Schweiz unerwünschten Personen des EDA, auf der Félicien Kabuga steht, weder an seine Mitarbeitenden noch an die Grenzpolizei weiter.
Diese Visumserteilung wird im Bundesamt für Justiz später aufgearbeitet. Es seien «administrativen Fehler» begangen worden, so das Fazit.
Dennoch hat die Affäre Kabuga Konsequenzen: Der Chef des Bundesamtes für Ausländerfragen geht in der Folge, offiziell aus gesundheitlichen Gründen, mit 59 Jahren in den Ruhestand.
Die Administrativuntersuchung zur Visumserteilung von Kabuga wird nie veröffentlicht. Bis heute ist sie unter Verschluss.
Unrühmliche Rolle der Schweiz
Nach mehrwöchigem Aufenthalt in der Schweiz stellt der mutmassliche Völkermörder Félicien Kabuga ein Asylgesuch. Nun bewegen sich auch die Beamten in Bundesbern. Und plötzlich kann es dem dafür zuständigen Justizdepartement gar nicht schnell genug gehen. Man will die Familie loswerden.
Auch, wenn bekannt ist, dass Kabuga eine massgebliche Rolle im Völkermord gespielt haben dürfte, eröffnet die Schweiz lieber kein juristisches Verfahren. Eine Inhaftierung sei mit der vorhandenen Information über Kabuga unter der rechtlichen Grundlage in der Schweiz nicht möglich, so die Begründung.
Die dafür zuständige Militärjustiz wird nicht einmal über den Fall Kabuga informiert. Das geschieht erst einen Tag, bevor Justizminister Arnold Koller dafür sorgt, dass die ganze Familie Kabuga ausser Landes geschafft wird.
Schweiz bezahlt Flugtickets
Und dafür sind keine Kosten zu hoch. Weil Kabuga sich weigert, bezahlt die Schweiz der ganzen Familie die Flugtickets nach Kinshasa, der Hauptstadt Kongos. Steuergelder im Wert von rund 21'000 Franken.
Bevor der damals wohl reichste Mann Ruandas in Genf ins Flugzeug steigt, lässt man ihn aber noch kurz eine Bankfiliale aufsuchen. Laut einem Bericht der Weltwoche hat Kabuga damals Banktransaktionen im Umfang von fünf Millionen Franken vorgenommen.
Dass die Schweiz unter der gegebenen Informations- und Rechtslage Kabuga nicht hätte verhaften können, wurde damals und wird heute von diversen Juristinnen und Juristen bestritten. Laut der Historikerin Thanushiyah Korn von der Universität Basel hatte die schnelle Ausweisung von Kabuga vor allem einen Grund: «Kabuga in der Schweiz vor Gericht zu stellen, hätte viel Aufmerksamkeit erregt. Es hätte die Behörden unter Druck gesetzt, die Rolle der Schweiz in diesem Konflikt aufzuarbeiten und sich sehr unangenehmen Fragen zu stellen.»
Darunter die Grundsatzfrage: War die Schweiz zu lange zu nahe am extremistischen Hutu-Regime (siehe Kasten)? Korn forscht zum Fall Kabuga und wartet derzeit darauf, dass ihr das Bundesarchiv Aktenzugang gewährt. Bis dahin bleiben viele Fragen offen über die unrühmliche Rolle der Schweiz im Fall Kabuga.