Nur wer beweisen kann, dass sich seine Depression nicht therapieren lässt, hat Anspruch auf eine Invalidenrente. So sah es das Bundesgericht bisher. Menschen mit einer Depression – respektive deren Ärztinnen – mussten belegen, dass alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft, eine Heilung aber nicht in Sicht sei.
Das Urteil bestätigt an sich das Vorgehen der IV-Stellen.
Fachjuristen und Psychiater kritisieren diesen harten Kurs schon länger. Sie sagen, selbst bei chronisch depressiven Menschen gebe es fast immer weitere Therapiemöglichkeiten. Zu beweisen, dass keine Therapie mehr Erfolg verspreche, sei ein Ding der Unmöglichkeit. Die Richter am Bundesgericht in Lausanne haben sich von der Kritik überzeugen lassen und ändern ihre Praxis.
Neu müssen Gutachter, IV-Mitarbeiter und Richter den Einzelfall prüfen. Anhand eines umfangreichen Fragenkatalogs müssen sie erforschen, wie eine Depression die Betroffenen bei der Arbeit, im Haushalt, in der Freizeit beeinträchtigt. Die Richter ernten Applaus für ihre Praxisänderung, von Behindertenverbänden, Psychiatern, Juristen, aber auch von der IV selbst.
Bund erwartet kaum Veränderung in Praxis
Stefan Ritler leitet den Bereich Invalidenversicherung im Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV). Er sagt, sein Bundesamt habe die IV-Stellen vor zwei Jahren bereits angewiesen, bei Menschen mit Depressionen – und generell bei allen Krankheitsbildern – genauso vorzugehen, wie es das Bundesgericht nun vorschreibe. «Im Grundsatz ändert sich die Praxis praktisch nicht. Denn das Urteil bestätigt an sich das Vorgehen der IV-Stellen, seit wir sie im September 2015 angewiesen haben, ein offenes, strukturiertes Verfahren durchzuführen.»
Schon heute geht fast jede zweite IV-Rente an Menschen mit psychischen Krankheiten. Diese Zahl werde mit der Praxisänderung des Bundesgerichts kaum steigen, so Ritler. «Wir gehen nicht davon aus, dass das tel-quel zu mehr IV-Renten führen wird.» Die IV fühle sich – im Gegenteil – bestätigt in ihrer Praxis.
Behindertenverbände kritisieren Ausschluss
Bei den Behindertenverbänden aber klingt es anders. Der Bund habe den IV-Stellen zwar vor zwei Jahren neue Vorgaben gemacht, sagt der Jurist Cirio Papini vom Dachverband Inclusion Handicap. Nur seien diese kaum umgesetzt worden: «Die IV-Stellen sind immer noch davon ausgegangen, dass leichte und mittelschwere Depressionen so oder so nicht invalidisierend sind. Das hat praktisch zu einer automatischen Ausschliessung einer Rentenprüfung geführt.»
Die IV-Stellen sind davon ausgegangen, dass leichte und mittelschwere Depressionen so oder so nicht invalidisierend sind.
Mit der Praxisänderung des Bundesgerichts werde sich das jetzt ändern, sagt Papini. «Es wird in einigen Fällen schon dazu führen, dass eine Rente mehr zugesprochen wird. Aber es wird wahrscheinlich nicht zu einer massiven Zunahme von Renten aufgrund von Depressionen führen.»
IV-Renten gibt es nur für Menschen, die zu mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig sind. Bei weitem nicht alle Menschen mit einer Depression sind durch ihre Krankheit derart stark eingeschränkt. Ihre Renten-Anträge werden aber von nun an auf – wahrscheinlich – fairere Art und Weise geprüft.