Die überparteiliche Organisation «Helvetia ruft» hat sich heute in Bern getroffen, um die Parteipräsidien zur grossen Wette für einen höheren Frauenanteil im Parlament herauszufordern. Kathrin Bertschy, Co-Initiantin der Organisation, im Interview.
SRF News: Kathrin Bertschy, Sie starten heute die Kampagne «Helvetia ruft!» für die Wahlen 23. Welchen Frauenanteil wollen Sie nächstes Jahr erreichen?
Kathrin Bertschy: Das Ziel von «Helvetia ruft!» ist immer dasselbe: Dass Frauen und Männer zu gleichen Teilen politische Entscheidungen treffen. Also 50:50.
2019 gab es einen Frauenanteil von 42 Prozent im National- und 28 Prozent im Ständerat. Damals hatten wir den Frauenstreik im Sommer, die MeToo-Kampagne auf ihrem Höhepunkt, die grünen Themen, die den Frauen näher liegen. Wie wollen Sie das toppen?
Diese Mobilisierung hat damals sicher dazu beigetragen, dass wir 20 Sitze mehr haben im Nationalrat und der Frauenanteil im Ständerat verdoppelt werden konnte. Aber es gab vorher diese hartnäckige, überparteiliche Arbeit all dieser Projektträgerinnen, von denen ich nur eine bin, die in ihren Parteien gewirbelt und geweibelt haben, damit mehr Frauen auf den Listen und auf besseren Listenplätzen sind. Diesen Erfolg gilt es zu halten und auszubauen.
Was machen Sie jetzt konkret von heute an bis zu den Wahlen 23?
«Helvetia ruft!» hat einen Drei-Punkte-Plan. Wir engagieren uns für mehr Frauen auf den Listen, motivieren sie, zu kandidieren und den Parteien beizutreten, nur dort können sie auch gewählt werden. Dann gibt es ein Mentoring-Programm, wo alle Kandidatinnen übers ganze Land eingeladen sind, teilzunehmen. Und drittens gibt es den Druck auf die Parteien. Wir bitten die Kantonalsektionen der Parteien, die Frauen auf den Listen besser zu berücksichtigen und zu platzieren. Und wir schauen dann auch, ob das gelungen ist.
Wenn mehr Frauen auf den Listen sind, werden auch mehr Frauen gewählt.
2019 waren 40 Prozent der Kandidierenden auf den Listen in der ganzen Schweiz Frauen, am Schluss wurden 42 Prozent Frauen gewählt. Das heisst also: Wenn es genug Frauen hat auf den Listen, dann haben Frauen eigentlich die besseren Chancen, gewählt zu werden.
Das war die zusätzliche Mobilisierung, die der Frauenstreik ergeben hat. Und es gab natürlich Aufholbedarf. Wir hatten das erste Mal die Situation, dass mehr neue Frauen als neue Männer ins Parlament gewählt wurden – all die Jahrzehnte vorher war es umgekehrt. Aber es ist so: Wenn mehr Frauen auf den Listen sind, werden auch mehr Frauen gewählt. Sie brauchen aber auch die guten Listenplätze.
Was hat sich durch die Frauenwahl 2019 geändert? Machen die Frauen andere Politik als die Männer?
Der Nationalrat hat ein anderes Gesicht erhalten, und zwar dadurch, welche Themen nun Raum und Gewicht haben und ernst genommen werden. Wir haben diese Woche zum Beispiel Vorstösse überwiesen, um Forschung und Therapie von Frauenkrankheiten zu stärken oder ein Gendermedizin-Forschungsprogramm in Auftrag zu geben. Das wäre nicht denkbar gewesen in den vorigen Legislaturen.
Das andere sind die wirklich grossen Geschäfte wie Kinderbetreuung, Individual-Besteuerung, Gewaltpräventions-Programme gegen häusliche Gewalt. Das sind Bereiche, wo eine Mehrheit jetzt denkbar ist, weil die Frauen überparteilich dafür arbeiten.
Ihnen ist eine überparteiliche Zusammenarbeit sehr wichtig. Nun hat man gerade letztes Wochenende bei der AHV-Vorlage gemerkt, dass dies auch Grenzen hat. Es gab eine tiefe Kluft zwischen den linken Frauen und den bürgerlichen Frauen. SP-Nationalrätin Funiciello will dazu aufrufen, nicht mehr einfach Frauen zu wählen, sondern linke Frauen.
Natürlich, sie will ihre Politik, eine SP-Politik. Aber auch sie weiss, dass wir mit einer guten überparteilichen Zusammenarbeit die Gleichstellungsthemen sehr erfolgreich voranbringen können, und das wird auch in der Altersvorsorge, in der beruflichen Vorsorge, der Fall sein. Die Frauen setzen dort andere Schwerpunkte als die Männer, und das zu Recht.
Ein Problem ist, dass die Frauen nach wie vor weniger abstimmen und wählen gehen. Müssten Sie da nicht auch mehr machen?
«Helvetia ruft!» macht ja genau das im Sinne einer Motivation, sich politisch zu engagieren, anzutreten und zu kandidieren. Weil Frauen Vorbilder brauchen, auch in der Politik. Sie müssen sich identifizieren können mit diesen politischen Gremien.
Das Gespräch führte Urs Leuthard.