Jeden Morgen kurz vor 7 Uhr rollt in Buchs im St. Galler Rheintal der Nachtzug aus Wien an. An Bord sind meist junge Männer, Migranten, die aus Österreich durch die Schweiz reisen wollen. In Buchs werden sie von der Grenzwache aus dem Zug geholt.
Was dann passiert, erklärt Lukas Rieder vom Staatssekretariat für Migration SEM: «Die Migranten werden kontrolliert. Dann können sie ein Asylgesuch stellen. Jene, die kein Asylgesuch stellen und nicht zur Fahndung ausgeschrieben sind, müssen aus der Kontrolle entlassen werden.» Eine rechtliche Möglichkeit, sie länger festzuhalten, bestehe nicht.
Jene, die kein Asylgesuch stellen und nicht zur Fahndung ausgeschrieben sind, müssen aus der Kontrolle entlassen werden.
Schon kurz nach der Kontrolle stehen die Kontrollierten dann wieder am Bahnhof und reisen weiter, etwa nach Frankreich. Genau das aber gehe nicht, sagt Sarah Progin, Professorin für europäisches Migrationsrecht an der Universität Neuenburg.
«Wenn man die Migranten kontrolliert und feststellt, dass sie sich illegal in der Schweiz aufhalten, müsste man sie eigentlich dem korrekten Verfahren zuführen», so Progin. Also entweder einem Dublin-Verfahren oder einem Rückführungsverfahren in den Heimatstaat. Kontrollieren und weiterreisen lassen sei in den Verträgen nicht vorgesehen.
Kein Problem sieht der Bund. «Diese Menschen kann man nicht einsperren und an der Weiterreise hindern. Sie hatten die Möglichkeit, während zwei Monaten noch ein Gesuch zu stellen», erklärte Justizministerin Karin Keller-Sutter Anfang Woche.
SEM: Migranten tauchen unter
Bis geklärt sei, welches Land die Migranten allenfalls zurücknehmen müsste, könne man niemanden festhalten, unterstreicht auch das SEM. Und dafür geben die Regeln des europäischen Dublin-Asylsystems der Schweiz zwei Monate Zeit. «In der Realität tauchen die Migranten in der Regel während dieser Zeit unter und eine Wegweisung ist dann nicht mehr möglich», so Rieder.
Wenn die Geflüchteten aus Buchs also schnell genug wieder ausreisen, werden sie nicht zurückgeschafft. Und die Schweiz ist auch nicht mehr zuständig. Formal entspreche dieses Vorgehen den internationalen Regeln, so das SEM.
Zu einfach?
Genau damit mache es sich die Schweiz aber zu einfach, widerspricht Migrationsexpertin Progin: «Eigentlich darf man ja einen illegalen Aufenthalt nicht tolerieren und muss schon irgendeine Art von Verfahren durchführen», bekräftigt sie. Denn die Idee des Schengen-Dublin-Systems sei es, genau diese Transit-Migration in Europa zu verhindern. Dem komme die Schweiz nicht mehr nach.
Die Idee von Schengen-Dublin ist es, die Transit-Migration zu verhindern. Dem kommt die Schweiz nicht mehr nach.
Diesen Grundsatz verteidigte die Schweiz auch lange, zum Beispiel in der Flüchtlingskrise 2015, als die Zahl der Asylsuchenden ebenfalls stark anstieg. Wenn die Schweiz schon davon ausgehe, dass die Migrantinnen und Migranten untertauchen, müsse sie eigentlich anders reagieren, folgert Progin.
Der doppelte Nutzen
So zumindest sehen es die internationalen Regeln vor. Aus der Schweiz heisst es aber, dass dies unverhältnismässig wäre. Es fehle die nationale gesetzliche Grundlage, und es sei auch nicht praktikabel.
Von der schnellen Weiterreise der Migranten profitiert die Schweiz zurzeit doppelt: Erstens gibt es aktuell gar nicht genügend Haft- oder Unterbringungsplätze. Und zweitens muss sie nicht klären, welches Land für die Betroffenen zuständig ist. Damit verhindert sie auch, dass sie je nach Konstellation selber zuständig werden kann.