Die Lage im Schweizer Gesundheitssystem ist kritisch: Gestern wurde bekannt, dass der Verband des Pflegepersonals dem Bundesrat einen Warnruf geschickt hat: Viele Pflegende seien bereits am Ende ihrer Kräfte – bis zum Frühling lasse sich die Belastung schlicht nicht durchhalten.
Alle Institutionen betroffen
Die Situation ist offenbar dramatisch. Und das nicht nur für das Personal auf den Intensivstationen, sondern für alle Pflegenden im Gesundheitsbereich: Ob Akutspital, Rehaklinik oder Altersheim.
Wenn ich einen Patienten habe, der mir sterbend die Lebensgeschichte erzählen will und ich ihn allein lassen muss, macht mir das Mühe.
Darum hat Bianca Schaffert-Witvliet, die Präsidentin der Ethikkommission des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), einen dringenden Warnruf an Bundes- und Regierungsräte gerichtet. Sie sagt: «Wenn ich einen Patienten habe, der mir sterbend die Lebensgeschichte erzählen will und ich ihn allein lassen muss, macht mir das Mühe.»
Pflegende forderten Lockdown bereits im Oktober
Die Pflegenden begrüssen zwar den gestrigen Bundesratsentscheid: Endlich werde auf nationaler Ebene gehandelt. Doch genau diese Forderungen stellen sie seit Monaten. Schon im Oktober hat die Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin vom Bundesrat eindringlich schweizweite Massnahmen gefordert. Schon damals haben die Pflegenden in aller Deutlichkeit einen Lockdown gefordert.
Aber sie wurden immer wieder enttäuscht: nun wieder. Die jetzigen Massnahmen seien schlicht nicht ausreichend. Das sagen auch Fachleute am Universitätsspital Zürich und im Covid-Testcenter der Universität Zürich. Hier ist die aufkommende Verzweiflung immer deutlicher zu spüren.
Epidemiologe Jan Fehr zum Beispiel warnt: «Es ist nicht Zeit für Ohnmacht, aber wir kommen ans Limit. Wir müssen Notbremse reinbringen, damit wir die Situation im roten Bereich umgehen können.»
Keine Intensivbetten mehr in manchen Kantonen
In Tat und Wahrheit ist die Situation längst im roten Bereich. In manchen Kantonen sind gar keine Betten auf Intensivstationen mehr frei. Im Kanton Aargau und Solothurn sind bereits über 90 Prozent belegt und auch in den Kantonen Bern und Zürich spitzt sich die Situation mit einer Belegung von 80 Prozent immer mehr zu. Aber: In dieser Rechnung kommen die Pflegenden noch gar nicht vor.
Man müsse nicht nur die Infrastruktur anschauen, so Epidemiologe Jan Fehr: «Wir müssen beim Gesundheitspersonal ganz genau hinschauen, wer überhaupt noch eingesetzt werden kann, das ist der limitierende Faktor im Alltag.»
«Alle laufen auf dem Zahnfleisch»
Der Engpass sei auch nicht ungefährlich, sagt Bianca Schaffert-Witvliet: «Wir gehen auch später in ein Zimmer hinein, weil wir mehr Patienten haben.» Bereits heute leide die Pflege-Qualität durch die konstante Überbelastung. Und sollten die Fallzahlen über die Feiertage noch steigen, dann werden die Konsequenzen wohl verheerend sein, so Schaffert-Witvliet: «Alle laufen auf dem Zahnfleisch. Und leider haben wir leider keine Aussicht auf Besserung.»
Es ist eine Situation, die ausserordentlich fordert und dramatisch ist und sehr, sehr auslaugt.
Auch Epidemiologe Fehr bestätigt: «Es ist eine Situation, die ausserordentlich fordert und dramatisch ist und sehr, sehr auslaugt.» Ausgelaugte, erschöpfte und verzweifelte Pflegende: Keine guten Aussichten für die anstehenden Herausforderungen.