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Zunahme der Gewalt in Schweizer Notaufnahmen
Aus Tagesschau vom 16.01.2024.
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Gewalt gegen Spitalpersonal «Fast jede Pflegefachperson hat schon Gewalt erlebt»

Schlagen, Beissen, Würgen: Auf Schweizer Notaufnahmen kommt es vermehrt zu physischer Gewalt gegen Spitalpersonal. Während die Patientenanzahl steigt, verschärft sich gleichzeitig der Fachkräftemangel. Betroffene fordern eine bessere Betreuung nach traumatischen Gewalterlebnissen.

Das Inselspital Bern meldet vermehrt Gewaltvorfälle auf der Notfallstation: «Wir stellen eine Zunahme fest», sagt Christian Leuenberger, Leiter Sicherheit Inselspital. Die Zunahme bewege sich am Inselspital im gleichen Rahmen wie jene des Patientenvolumens.

Die Gewalt beinhalte sowohl tätliche als auch verbale und sexuelle Gewalt.

Ist das ein schweizweites Problem? SRF hat bei den grössten Deutschschweizer Spitälern nachgefragt. Am Unispital Basel spürt man die gleiche Entwicklung: «Spitalweit nehmen solche Vorfälle jedes Jahr um etwa zehn Prozent zu», sagt Mediensprecherin Caroline Johnson. Über die Pandemiejahre sei es sehr intensiv gewesen, man habe auf eine Abflachung gehofft. «Das ist leider nicht eingetroffen», so Johnson.

Spitalweit nehmen solche Vorfälle jedes Jahr um etwa zehn Prozent zu.
Autor: Caroline Johnson Mediensprecherin Unispital Basel

Auch das Kantonsspital Luzern stellt eine Zunahme fest – konkrete Zahlen dazu fehlen. Im Unispital Zürich ist Gewalt ebenfalls keine Seltenheit – rund 900 Mal wird dort pro Jahr der Sicherheitsdienst alarmiert. «Die Zahl der Bedrohungen und Übergriffe auf Ärzteschaft und Pflegefachpersonen hat über die Jahre zugenommen, verharrt aber seit einiger Zeit auf dem gleichen Niveau», sagt Claudio Leitgeb, Bereichsleiter Unternehmenssicherheit am UZH.

Notfallabmulanz fährt ins Inselspital
Legende: Allein auf der Notfallstation im Inselspital hat 2023 der Sicherheitsdienst rund 2000 Mal interveniert. Keystone

Warum nimmt die Gewalt gegen das Spitalpersonal zu? «Es kommen zwei Trends zusammen», so Pierre-André Wagner, Leiter Rechtsdienst vom SBK, dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner. «Wir haben immer weniger Pflegepersonal. Konträr dazu aber immer mehr Patienten», so Wagner. Viele hätten keinen Hausarzt mehr und gingen darum direkt in die Notfallstation: «Die Wartezeiten nehmen zu – das macht die Leute rasend.» Es gebe zudem einen gesellschaftlichen Trend: «Verrohung ist ein starkes Wort – aber viele Leute haben den Respekt gegenüber Blaulichtberufen verloren.»

Fast jede Pflegefachperson hat schon Gewalt erlebt.
Autor: Christina Schumacher Stv. Geschäftsführerin des SBK

Durch den Fachkräftemangel könne man Patienten mit Gewaltrisiko auch nicht korrekt betreuen: «Man sollte zu zweit ins Zimmer – in der Realität ist das selten möglich», sagt Christina Schumacher, stv. Geschäftsführerin des SBK. Sie arbeitet seit 20 Jahren als Pflegefachfrau.

Viele gewalttätige Patientinnen und Patienten hätten psychiatrische Diagnosen, seien dement oder stünden unter Substanz- oder Alkoholeinfluss. Auch Verständigungsprobleme führten zu Konflikten, «in beide Richtungen». Einerseits könnten sich gewisse Hilfesuchende nicht genügend ausdrücken. Andererseits erzürnten sich einige Patienten, wenn ausländisches Personal nicht perfektes Berndeutsch spreche.

Pflegefachfrau schaut zu Boden
Legende: Schlagen, Beissen, Würgen: Pflegefachfrauen und –männer erleben ein Spektrum von physischer Gewalt. Daneben kommt es im Alltag zu verbaler und sexueller Gewalt. (Symbolbild) Marijan Murat/Keystone

«Pflegefachpersonen, die vor Jahrzehnten gearbeitet haben, haben das vielleicht noch nicht erlebt», sagt sie. «Fast jede Pflegefachperson hat schon Gewalt erlebt», sagt Schumacher.

Um welche Art von Gewalt geht es? «Wird der Sicherheitsdienst einbezogen, geht es um brachiale Fälle», so Schumacher. Das Spektrum an physischer Gewalt reiche von Schlagen, Ohrfeigen, Würgen, Beissen, Haare reissen bis zum Anspucken. Daneben gebe es verbale und sexuelle Gewalt. «Pflegefachfrauen sind davon stark betroffen, da es nach wie vor ein Berufsfeld ist, in dem ein Grossteil weiblich ist.»

Wie geht man als betroffene Pflegende damit um?

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Als Erstes müsse man sich aus der Situation entfernen, sagt Schumacher. Es gebe aber auch Situationen, bei denen man angegriffen werde, in denen man nicht loslassen könne – weil sonst die Patientensicherheit gefährdet würde. Schumacher helfen anschliessende Gespräche mit Teamkolleginnen. Auch könne man sich an Vorgesetzte und Beratungsstellen wenden.

Ebenfalls hälfen eine gute Ausbildung und fundiertes Fachverständnis zu den verschiedenen Diagnosen der Patienten, um das Erlebte einzuordnen. «Es hilft, wenn man realisiert, dass einem der Patient oder die Patientin häufig nicht einfach so etwas Böses will.»

Der Arbeitsdruck sei auch nach einem Vorfall da. «Man arbeitet weiter, hat das Gefühl, jetzt geht es wieder, der Patient hat sich beruhigt.» Häufig komme das Erlebnis dann nach zwei, drei Tagen wieder hoch. Auch in ähnlichen Situationen könnten die mulmigen Gefühle solcher potenziell traumatischer Situationen erneut auftauchen.

Welche Massnahmen bräuchte es? Laut Schumacher habe sie es in 20 Jahren Pflegeerfahrung noch nicht erlebt, dass es nach einem Gewalterlebnis ein strukturiertes Debriefing gegeben habe. «Es wird nachgefragt, wie es einem geht», so Schumacher. Mehr passiere in der Regel nicht. «Wir vom SKB fänden es wichtig, dass das Personal richtig nachbetreut und geschult wird», sagt Schumacher.

Was tut das Inselspital gegen die Gewalt? «Wir bieten dem Personal interne Ausbildungen im Aggressionsmanagement an», sagt Christian Leuenberger, Leiter Sicherheit Inselspital. Das Personal könne den Sicherheitsdienst aufbieten und in äussersten Fällen werde die Kantonspolizei eingeschaltet. Dies deckt sich mit den Aussagen der anderen angefragten Spitäler. Ob es deswegen Kündigungen im Inselspital gebe, sei allerdings nicht bekannt, so Leuenberger.

«Der Realität begegnen»

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«Wir reden den Pflegeberuf nicht schlecht», sagt Schumacher. Häufig werde an den SBK der Vorwurf herangetragen, dass sie so potenziellen Nachwuchs abschrecken würden. «Dabei ist es wichtig, dieser Realität zu begegnen und Probleme zu benennen.» Nur dann könne man auch Verbesserungen anstossen.

Tagesschau, 16.01.2024, 19:30 Uhr;kobt

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