Der britische Premier John Major im April, der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl im August und Oktober und der französische Präsident François Mitterrand im Dezember – sie alle besuchten 1993 die Schweiz. So viel internationale Politprominenz in einem Jahr, das gab es hierzulande noch nie.
1993 sei das Jahr der «Charmeoffensive» gewesen, sagt Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz Dodis.
Was ist passiert? Nach dem Urnengang vom 6. Dezember 1992, als die Stimmbevölkerung den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR knapp abgelehnt hatte, suchte der Bundesrat einen Ausweg. Dass die Schweiz eine zweite Chance erhielt, stand nicht von Anfang an fest. Am WEF im Februar 1993 traf der damalige Bundespräsident Adolf Ogi einen EU-Kommissar, der vor einer möglichen Unterstellung der «Rosinenpickerei» warnte.
Vor allem die südlichen Mitgliedsländer Spanien und Portugal standen nach dem EWR-Nein der Schweiz sehr kritisch gegenüber, erklärt Historiker Zala. Der Grund sei das harte Saisonnierstatut gewesen, das in der Schweiz immer noch galt und den Familiennachzug erschwerte.
Drei Optionen als Ausweg
Nach dem EWR-Nein standen dem Bundesrat drei Möglichkeiten offen. Erstens: ein schneller EU-Beitritt. Das Gesuch hatte er ja bereits im Jahr zuvor – noch vor der EWR-Abstimmung – eingereicht. Zweitens: eine Neuauflage des EWR. Dritte Option: einzelne Probleme lösen, mit sektoriellen Abkommen. Dieser dritte Weg zeigte sich als der gangbare und realistischste Weg.
In den EU-Ländern wurden nämlich bilaterale Abkommen als Vorbereitungsschritt der Schweiz in Richtung eines baldigen EU-Beitritts wahrgenommen. Denn die Bundesräte Flavio Cotti und Jean-Pascal Delamuraz erklärten bei einem Besuch in Brüssel im Juni, weiterhin am EU-Beitritt festhalten zu wollen.
Die Charmeoffensive wirkte, unter anderem beim deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl. Bei einem Besuch im Oktober 1993 in Bern sagte er, die Schweiz sei geschichtlich und kulturell ein zutiefst europäisches Land. «Ich möchte, dass die Schweiz einen Weg nach Europa geht», so Kohl. Er war zutiefst überzeugt, die Schweiz werde bald der EU beitreten.
Das Jahr 1993 wurde zum Geburtsjahr einer neuen diplomatischen Praxis für die Schweiz. Die Praktiken der schweizerischen Diplomatie seien ab 1993 «normalisiert» worden, sagt Historiker Sacha Zala. Bundesräte reisten ins Ausland und trafen ihre Amtskolleginnen und -kollegen für persönliche Kontakte, so wie es andere Regierungen schon lange praktizierten. «Das war lange Zeit nicht so», sagt Zala.
Ein Irrtum mit Folgen
Eine geschichtliche Fehleinschätzung bleibt aber, die bis heute nachhallt. Der Bundesrat, die EU-Kommission und Helmut Kohl täuschten sich darin, dass der bilaterale Weg die Schweiz direkt in die EU führe.
«Aus europäischer Sicht ging der Schuss nach hinten los», sagt Zala. Denn die bilateralen Verträge seien für die Schweiz so günstig ausgefallen, dass die Integrationsoptionen verloren gingen, so der Historiker.
Die Schweiz lernte also, den bilateralen Weg zu lieben. Weder ein EU-Beitritt, der EWR noch ein institutionelles Rahmenabkommen sind aktuell Optionen.
Hingegen versucht die Schweiz im Moment wieder – und die EU ist darauf eingestiegen –, in sektoriellen bilateralen Abkommen Lösungen zu finden. Genauso wie ab 1993.