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Schweiz und die EU: Dokumente nun öffentlich
Aus SRF 4 News vom 01.01.2024. Bild: Keystone

Historische Dokumente belegen Das Jahr, als die Schweiz den bilateralen Weg zu lieben begann

Vor 30 Jahren suchte der Bundesrat einen Ausweg aus der europapolitischen Sackgasse. Dies nach der gescheiterten EWR-Abstimmung. Die Folge war eine Charmeoffensive gegenüber den EU-Ländern. Das zeigen neu zugängliche Dokumente.

Der britische Premier John Major im April, der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl im August und Oktober und der französische Präsident François Mitterrand im Dezember – sie alle besuchten 1993 die Schweiz. So viel internationale Politprominenz in einem Jahr, das gab es hierzulande noch nie.

Der Schweizer Bundespräsident Adolf Ogi und der französische Präsidenten François Mitterrand 1993.
Legende: «Monsieur le Président – on vous aime en Suisse» Der Schweizer Bundespräsident Adolf Ogi empfängt am 3. Dezember 1993 den französischen Präsidenten François Mitterrand im Berner Oberland. Ogi, der Charmeur aus Kandersteg, erklärt dem Gast: «On vous aime dans l'Oberland Bernois.» Reuters/John Schults

1993 sei das Jahr der «Charmeoffensive» gewesen, sagt Sacha Zala, Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz Dodis.

Was ist passiert? Nach dem Urnengang vom 6. Dezember 1992, als die Stimmbevölkerung den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR knapp abgelehnt hatte, suchte der Bundesrat einen Ausweg. Dass die Schweiz eine zweite Chance erhielt, stand nicht von Anfang an fest. Am WEF im Februar 1993 traf der damalige Bundespräsident Adolf Ogi einen EU-Kommissar, der vor einer möglichen Unterstellung der «Rosinenpickerei» warnte.

Protokoll der Treffen am Wef aus dem Bundesarchiv vom 2. Februar 1993
Legende: Der EU-Kommissar Hans van den Broek warnt den Bundespräsidenten Adolf Ogi am WEF 1993, die Schweiz könnte als «Rosinenpickerin» angesehen werden. Dodis

Vor allem die südlichen Mitgliedsländer Spanien und Portugal standen nach dem EWR-Nein der Schweiz sehr kritisch gegenüber, erklärt Historiker Zala. Der Grund sei das harte Saisonnierstatut gewesen, das in der Schweiz immer noch galt und den Familiennachzug erschwerte.

Drei Optionen als Ausweg

Nach dem EWR-Nein standen dem Bundesrat drei Möglichkeiten offen. Erstens: ein schneller EU-Beitritt. Das Gesuch hatte er ja bereits im Jahr zuvor – noch vor der EWR-Abstimmung – eingereicht. Zweitens: eine Neuauflage des EWR. Dritte Option: einzelne Probleme lösen, mit sektoriellen Abkommen. Dieser dritte Weg zeigte sich als der gangbare und realistischste Weg.

Verteidigungsminister Kaspar Villiger, Aussenminister Flavio Cotti und Bundespräsident Adolf Ogi treffen Helmut Kohl.
Legende: Neue diplomatische Praxis Der Bundesrat trifft am 18. Oktober 1993 auf dem Landgut Lohn den deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl zu einem vertraulichen Gespräch. Mit dabei sind Verteidigungsminister Kaspar Villiger (links), Aussenminister Flavio Cotti (daneben) und Bundespräsident Adolf Ogi (rechts). Es ist das bedeutendste europapolitische Treffen nach dem EWR-Nein. Keystone

In den EU-Ländern wurden nämlich bilaterale Abkommen als Vorbereitungsschritt der Schweiz in Richtung eines baldigen EU-Beitritts wahrgenommen. Denn die Bundesräte Flavio Cotti und Jean-Pascal Delamuraz erklärten bei einem Besuch in Brüssel im Juni, weiterhin am EU-Beitritt festhalten zu wollen.

Dokument aus dem Bundesarchiv vom 29. Juni 1993
Legende: Aussenminister Flavio Cotti und Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz erklären am 29. Juni 1993 dem EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors in Brüssel, dass der bilaterale Ansatz vorübergehend und das Ziel nach wie vor der EU-Beitritt sei. Dodis

Die Charmeoffensive wirkte, unter anderem beim deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl. Bei einem Besuch im Oktober 1993 in Bern sagte er, die Schweiz sei geschichtlich und kulturell ein zutiefst europäisches Land. «Ich möchte, dass die Schweiz einen Weg nach Europa geht», so Kohl. Er war zutiefst überzeugt, die Schweiz werde bald der EU beitreten.

Handschrifliche Notizen von Adolf Ogi aus dem Bundesarchiv vom 18. Oktober 1993.
Legende: Das vertrauliche Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl vom 18. Oktober 1993 war wohl das wichtigste europapolitische Treffen in diesem Jahr. Im Bundesarchiv gibt es von diesem Treffen nur die handschriftlichen Notizen von Bundespräsident Adolf Ogi. Kohl soll gesagt haben, der Schweizer Trotz nütze auf lange Sicht nicht. Dodis

Das Jahr 1993 wurde zum Geburtsjahr einer neuen diplomatischen Praxis für die Schweiz. Die Praktiken der schweizerischen Diplomatie seien ab 1993 «normalisiert» worden, sagt Historiker Sacha Zala. Bundesräte reisten ins Ausland und trafen ihre Amtskolleginnen und -kollegen für persönliche Kontakte, so wie es andere Regierungen schon lange praktizierten. «Das war lange Zeit nicht so», sagt Zala.

Ein Irrtum mit Folgen

Eine geschichtliche Fehleinschätzung bleibt aber, die bis heute nachhallt. Der Bundesrat, die EU-Kommission und Helmut Kohl täuschten sich darin, dass der bilaterale Weg die Schweiz direkt in die EU führe.

«Aus europäischer Sicht ging der Schuss nach hinten los», sagt Zala. Denn die bilateralen Verträge seien für die Schweiz so günstig ausgefallen, dass die Integrationsoptionen verloren gingen, so der Historiker.

Was ist Dodis?

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Legende: Dodis-Direktor Sacha Zala. KEYSTONE/VALENTIN FLAURAUD

Die «Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz» Dodis ist nach eigenen Angaben das unabhängige Kompetenzzentrum für die Geschichte der schweizerischen Aussenpolitik und der internationalen Beziehungen der Schweiz. Die Forschungsstelle wählt Schlüsseldokumente aus und publiziert jährlich Tausende davon in der öffentlich zugänglichen Datenbank Dodis. Die Datenbank ist öffentlich zugänglich.

Die Dokumente stammen primär aus dem Bundesarchiv. Nach 30 Jahren läuft jeweils die Schutzfrist ab. So werden ab dem 1. Januar 2024 Dokumente aus dem Jahr 1993 frei zugänglich für die Öffentlichkeit und Forschung.  

Dodis ist ein Institut der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW). Geleitet wird Dodis von Historiker Sacha Zala. Finanziert wird die Forschungsstelle zum grössten Teil durch den Bund.  

Die Schweiz lernte also, den bilateralen Weg zu lieben. Weder ein EU-Beitritt, der EWR noch ein institutionelles Rahmenabkommen sind aktuell Optionen.

Hingegen versucht die Schweiz im Moment wieder – und die EU ist darauf eingestiegen –, in sektoriellen bilateralen Abkommen Lösungen zu finden. Genauso wie ab 1993.

SRF 4 News, 01.01.2024, 06:00 Uhr

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