Fragt man in Bern nach Ignazio Cassis, taucht immer wieder sein früherer Beruf auf. Arzt sei er, das merke man, Humanist, er könne auf sein Gegenüber eingehen. Aber auch: «Vielleicht ist er manchmal zu verständnisvoll, zu Hausarzt-mässig.» Das sagt SP-Nationalrat Eric Nussbaumer.
Vermisst: ein klarer Kompass
Als Vorsteher des Aussendepartements sucht Cassis aussenpolitische Lösungen. Manche würden sagen: Er doktert daran herum. Am liebsten hat er Resultate, die innenpolitisch niemandem weh tun. Aber die Methode hat Nebenwirkungen.
Vielleicht ist er manchmal zu Hausarzt-mässig.
Kurzfristig entsteht so eine tragfähige menschliche Basis. Aber eben auch wenig Konkretes, kaum eigene Projekte. Bloss nicht anecken, scheint die Devise. Nicht immer werde klar, wo Cassis hinwolle, kritisiert auch Nussbaumer. Andere vermissen beim Tessiner einen klaren Kompass und eine Strategie, um eigene Visionen umzusetzen.
Kritik aus dem eigenen Lager
Wechselnde Positionsbezüge brachten dem Tessiner schon den wenig schmeichelhaften Vorwurf ein, er sei eine Fahne im Wind. Und selbst FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann sagt: «Ich verstehe, dass man das so anschauen kann.» Cassis suche kontinuierlich Lösungen, aber er sei «nicht wirklich einer, der seine Überzeugungen durchs Ziel bringen kann und will». Er könnte auch sagen: Cassis fehlt die Durchsetzungskraft.
Nicht wirklich einer, der seine Überzeugungen durchs Ziel bringen kann und will.
SVP-Aussenpolitiker Franz Grüter sagt, er habe Hoffnungen gehabt, als sich Cassis zu Beginn der Amtszeit nach rechts orientiert hat. Heute habe sich «diese richtige Haltung in Luft aufgelöst». Und Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan erklärt: «Wenn man in einer Führungsfunktion allen gefallen möchte, dann wird man am Schluss niemandem gefallen.»
Es ist der Fluch des Chefs des Diplomatischen Corps: Immer wenn er auf jemanden zugeht, entsteht woanders eine Lücke. Die Suche nach einer Lösung, die alle zufriedenstellt, führt nur im besten Fall zu einer mittleren Unzufriedenheit. Nach unten, Richtung Frust, ist da sehr viel Potenzial.
Cassis ist vorsichtig geworden
Wie geht der Bundesrat mit dieser harten Kritik um? Das hätten wir ihn gerne gefragt. Ein Interview aber hat er abgelehnt, wie er das häufig tut derzeit. Auch Schweigen ist eine Strategie, um nicht anzuecken.
Dabei wäre die Bilanz gar nicht so schlecht, auch neben dem EU-Dossier, zu dem er sich kaum äusserte. Die Ukraine-Konferenz auf dem Bürgenstock war für die Wahrnehmung des ramponierten, aussenpolitischen Images der Schweiz wichtig. Und für das zu Ende gehende Engagement der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat erhält das Land gute Noten.
All das könnte man kommunizieren. Aber Cassis ist im Laufe seiner Amtszeit sehr vorsichtig geworden. FDP-Präsident Thierry Burkart betont, der Aussenminister müsse sich gar nicht ständig äussern. Aber: «Jetzt wird die Kommunikationstätigkeit zwangsläufig zunehmen, im Zusammenhang mit dem EU-Verhandlungsergebnis». Es hat etwas Feststellendes.
Mehr Widerspruch riskieren
Bei den Befürwortern eines Abkommens klingt das fast schon flehend: «Wenn die Bilateralen scheitern, dann ist das auch ein Scheitern des Aussenministers», so Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter.
Tatsächlich wird Ignazio Cassis einst wohl an seiner Europapolitik gemessen. Will er Erfolg haben, muss er wieder mutiger werden und mehr Widerspruch riskieren. Nicht alle werden zufrieden sein. Aber Ärzte müssen manchmal auch unerfreuliche Nachrichten überbringen.