Frühmorgens auf dem Bundesplatz. Traurig hängen die Wolken über der Stadt, es ist kalt und dunkel. Die ersten Bundesbeamten quälen sich durch die feuchten Gassen. Ein Punk sitzt vor der UBS-Filiale und besingt schlaftrunken die Weltrevolution.
Doch die findet heute nicht statt. Im Gegenteil. Nur einen Pflastersteinwurf entfernt werden die herrschenden Verhältnisse zementiert: Die Vereinigte Bundesversammlung wählt einen neuen Bundesrat, dazu noch einen Wirtschaftsliberalen.
«Moret oder Maudet? Egal, Hauptsache ein Tessiner!», bricht es aus einem schlecht informierten Passanten heraus. Dann schlendern auch schon die ersten Räte über den Bundesplatz; in guteidgenössischer Manier werden sie von den Stimmbürgern gemustert. Schliesslich verschwinden die Politiker hinter den Pforten des Bundeshauses.
War's das schon?
In den Heiligen Hallen Bundesberns ist es vorbei mit der Herbstdepression. Eine Armada an Medienschaffenden erwartet die Parlamentarier. Alle beschäftigt sie eine Frage: Wer wird der Nachfolger von Didier Burkhalter? Und wird es ein Tessiner, ein Romand, ein Mann, eine Frau – oder vielleicht sogar ein Italiener ?
Als erster der Bundesratskandidaten trifft Ignazio Cassis ein. Schlagartig verschiebt sich der Journalisten-Schwarm zum Eingang des Bundeshauses. Blitzlichtgewitter ergiesst sich über den Kronfavoriten, als hätte sich der Schwarm elektrisch entladen. Cassis bleibt unversehrt, kämpft sich durch das Dickicht von Kameras und Mikrofonen, und verschwindet hinter verschlossenen Türen.
In der Wandelhalle suchen die Veteranen unter den Bundeshausjournalisten nach Spuren einer Nacht der langen Messer: Augenringe, verschwörerische Blicke zwischen Sozial- und Christdemokraten, Fraktionschefs, die abtrünnige Parteikollegen bearbeiten. Fündig werden sie nicht.
Bestens gelaunt und ausgeschlafen präsentieren sich Königsmacher und Strippenzieher. Die Stimmung ist verdächtig gesetzt: Wortreich verpackte Polit-Floskeln, kleine Nadelstiche an den politischen Gegner – doch Frontalangriffe bleiben aus. Ignazio Cassis, der Favorit der rechten Ratshälfte, darf sich zurücklehnen.
Politroutinen in der Wandelhalle
Thomas Aeschi sorgt wenigstens für ein bisschen Spannung. «Wir müssen auf der Hut sein, man ist nie vor einem Überraschungskandidat gefeit!» Die Worte des SVP-Strategen klingen, als würde der deutsche Bundestrainer vor dem Kurzpassspiel der Färöer warnen. Denn eine Mitte-links-Allianz, die «Bundesrat Cassis» verhindern könnte, ist weit und breit nicht in Sicht.
Die Stimmung in der Wandelhalle ist eher festlich statt feindselig. «Die FDP hat die Wahl geschickt orchestriert», sagt Hanspeter Trütsch. Der SRF-Bundeshauskorrespondent wird recht behalten: Alles läuft streng nach dem Drehbuch der Freisinnigen.
Der heutige «Politkrimi» hat nicht mal Tatort-Länge – trotz der halbstündigen Verabschiedung von Didier Burkhalter. «Abtreten ist immer auch eine Art sterben», erklärt der scheidende Aussenminister. Nach diesen Worten begeht die Vereinigte Bundesversammlung die Wahl.
Und dann geht alles ganz schnell. Kaum haben die Räte ihre Zettel in die Urnen gelegt, steigt weisser Rauch auf. «Habemus Cassis!», entfährt es dem Kabelträger eines TV-Teams. Doch die andachtsvolle Stimmung löst sich buchstäblich in Rauch auf: Ein paar verstreute Parlamentarier gönnen sich eine Zigarette, während die Stimmen des ersten Wahlgangs ausgezählt werden.
Doch keine zwanzig Minuten später ist es amtlich: «Gewählt ist mit 125 Stimmen Ignazio Cassis», verkündet Nationalratspräsident Jürg Stahl. Anhaltender Applaus im weiten Rund, Blumen, und dann die feierliche Vereidigung.
Draussen vor der Tür herrscht helle Aufregung: Kameras, Mikrofone und Scheinwerfer werden in Stellung gebracht; das mediale Schaulaufen von Siegern, Verlierern und Parteipräsidenten wird ungleich länger dauern als die eigentliche Wahl.
In seiner Antrittsrede zitiert Cassis Rosa Luxemburg: «Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden!». Versöhnliche Worte an den Punk vor der UBS? Man weiss es nicht. Mit seiner eigenen Freiheit sei es jetzt auf jeden Fall vorbei, witzelt der designierte Bundesrat kurz darauf. Die Security, die sich um den Tessiner formiert hat, stimmt grimmig zu.
Routiniert spult Cassis den Medien-Marathon ab. Geduldig, ohne den Anschein von Müdigkeit, beantwortet er die Fragen der Bundeshausjournalisten: «Ich bin noch etwas konfus», sagt der neue Bundesrat, der sich nach den gestrigen Hearings bei den Fraktionen noch «wie in einer Seifenblase gefühlt» hatte.
Ein bisschen Drama zum Schluss
Langsam lichtet sich das Meer von Journalisten und technischem Equipment in der Wandelhalle. Irgendwann ist alles gesagt, in Deutsch, Französisch und Italienisch. Zeit also, um etwa 100 Meter entfernt im Medienzentrum des Bundeshauses noch einmal das Gleiche zu sagen? «Diesmal nicht!» entscheidet sich der frisch gewählte Bundesrat.
Und holt aus zu einem Schluss-Statement, das sich gewaschen hat: «Hören Sie auf mit dieser Frage!», verbittet sich Cassis das endlose Nachhaken, wie er denn als Bundesrat das Tessin vertreten wolle; dann klärt er die Deutschschweizer Journalisten – sichtlich enerviert – über die Eigenheiten seines Heimatkantons auf. Ein bisschen Drama nach einer Bundesratswahl, die nicht in die Geschichte eingehen wird.