Der Bundesrat sucht im Kampf gegen die Corona-Pandemie die Balance zwischen dem Schutz der Gesundheit und den Bedürfnissen der Bevölkerung. Geltende Bestimmungen werden laufend angepasst oder erweitert. Gesundheitsminister Alain Berset hält die Lage in der Schweiz im Moment für nicht besorgniserregend – doch er weiss: Es kann sehr schnell wieder schlechter werden.
SRF: Der Bundesrat hat heute entschieden, die Grenzregionen in Zukunft von der Quarantänepflicht auszunehmen. Das ist gut für die Wirtschaft, aber schlecht für die epidemiologische Lage.
Alain Berset: Wir können das nicht so sagen. Wir haben Lebensräume, die über die Grenzen gehen. Der Fall Basel zum Beispiel: drei Länder, eine Agglomeration, es wird über die Grenzen gelebt. Und wir haben auch im März, als die Grenzgänger trotz Grenzschliessung gearbeitet haben, gesehen, dass es funktioniert hat.
Man hätte ja nur die Grenzgänger von der Quarantänepflicht ausnehmen können. Warum alle Leute, die die Grenze zwischen den Grenzregionen überqueren?
Wir haben etwas gelernt von der Situation im März. Damals war die Situation ausser Kontrolle, und das ist jetzt überhaupt nicht der Fall. Zweiter Punkt: die Schliessung der Grenzen damals hat zu grossen Problemen geführt für die Bevölkerung, die in den Grenzregionen lebt. Unser Ziel ist nicht, das Leben zu verhindern, zu verkomplizieren, unser Ziel ist, einen guten Weg zu finden mit dieser Situation. Ja, es gibt diesen Virus, wir müssen mit ihm leben. Wenn die Situation im Griff bleibt, dann können wir die Grenzregionen ausnehmen von der Quarantänepflicht.
In Basel sieht die Situation in den Grenzregionen tatsächlich nicht so schlecht aus. Ganz anders in Genf: Die angrenzende Region Auvergne-Rhône-Alpes hat die dritthöchste Infektionsrate in Frankreich. Das ist ein Hochrisikogebiet, und grenzt direkt an Genf.
Genf ist auch Risikogebiet. Ich denke, es gibt in Genf keine grossen Differenzen über die Grenzen hinweg. Was Probleme machen könnte, wären grosse Differenzen in den Inzidenzraten, also wie viele Leute sich angesteckt haben. Dann müsste man wirklich aufpassen. Aber dort, wo es recht ähnlich ist, dort ist es kein grosses Problem. Und übrigens hat uns der Kanton Genf selber gesagt, dass sie eine Ausnahme für die Grenzregionen wollen, dass sie weiterhin zusammen über die Grenzen hinweg leben wollen, und dass sie das gut meistern können, auch mit dem Contact Tracing.
Ich weiss nicht, wo wir in ein oder zwei Monaten stehen. Aber das Hauptziel dieser Massnahme bleibt die Botschaft: Bitte verzichtet wo möglich auf Ferien in Südfrankreich, oder in anderen Risikogebieten.
Gibt es für Sie eine Grenze, wo Sie sagen würden: Jetzt muss man die Grenzregionen auch in die Quarantänepflicht einschliessen?
Das ist sehr schwierig zu sagen. Man konnte auch in den letzten sechs Monaten dieser Pandemie nie mit Automatismen arbeiten. Das kann man nie in einer Krise! Man muss die Situation ständig neu beurteilen, sehr flexibel und bescheiden sein und einen guten Weg suchen. Im Moment geht es gut so, wir haben jetzt einen Schritt gemacht, den andere Länder auch machen. Das gibt uns auch eine gewisse Stabilität. Ich weiss nicht, wo wir in ein oder zwei Monaten stehen. Aber das Hauptziel dieser Massnahme bleibt die Botschaft: Bitte verzichtet wenn möglich auf Ferien in Südfrankreich, oder in anderen Risikogebieten. Wenn es nicht notwendig, dann geht besser nicht dorthin!
Wir müssen einen Weg finden, wo wir mit dieser Eindämmungsstrategie, mit dem Contact Tracing, gut funktionieren. Das erlaubt uns, ein einigermassen normales Leben zu führen.
In der Schweiz wird überall gelockert. Gleichzeitig steigen die Fälle – heute 528 Fälle, das ist schon fast wieder ein Rekord. Auch die Zahlen in den Spitälern, in den Pflegeheimen steigen wieder an. Machen Sie sich keine Sorgen?
Nein, ich mache mir keine Sorgen. Aber: Die Situation ist sehr sensibel, eine Gratwanderung. Wir müssen einen Weg finden, wo wir mit dieser Eindämmungsstrategie, mit dem Contact Tracing, gut funktionieren. Das erlaubt uns, ein einigermassen normales Leben zu führen. Wir können ins Restaurant, ins Kino, wir können ins Museum.
Mit der Folge, dass die Zahlen steigen. Und dass wieder mehr Leute sterben.
Aber das ist überhaupt nicht vergleichbar mit dem, was wir im März erlebt haben. Die Positivitätsrate liegt etwa bei drei Prozent, manchmal etwas darunter, manchmal etwas darüber. Das ist eine grosse Differenz zum März, wo die Positivitätsrate bei 25 bis 30 Prozent lag. Und man muss einfach sagen: Die Zahlen steigen sehr langsam, und das Contact Tracing funktioniert. Wir brauchen gute Schutzkonzepte, die Leute wissen, wie man sich schützen kann, und sie machen das auch. Wir müssen aber aufpassen; es kann sehr schnell wieder schlechter werden.
Das Interview führte Urs Leuthard.