Darum geht es: Bei der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) in Genf wird jeder Physiker oder jede Ingenieurin, der oder die an einem der vier Hauptexperimente des Large Hadron Collider (LHC) mitgewirkt hat – es sind Hunderte, manchmal Tausende – in der Regel in der Autorenliste der wissenschaftlichen Artikel genannt. Dies geschieht neben den nationalen Institutionen und Finanzierungsorganen, die diese Forscher und Experimente unterstützt haben.
So verändert der Krieg die Forschung: Im März 2022 änderte sich das Blatt, im wahrsten Sinne des Wortes. «Nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges wollten viele Mitarbeiter Artikel, auf denen die Namen russischer oder weissrussischer Wissenschaftsorganisationen erschienen, nicht mehr mitunterzeichnen, da deren Leiter offen für den Krieg Partei ergriffen hatten», erklärt Patricia McBride, Sprecherin des CMS-Experiments beim Cern, gegenüber RTS. «Die Mitarbeiter forderten, dass eine andere Lösung gefunden werden müsse.»
Übergangslösung nicht zufriedenstellend: Es musste eine Übergangslösung gefunden werden: «Die wissenschaftlichen Artikel wurden wie üblich den wissenschaftlichen Zeitschriften zur Peer-Review vorgelegt», erklärt Pippa Wells, stellvertretende Forschungsdirektorin am Cern. Etwa 100 Artikel wurden angenommen und warteten auf ihre Veröffentlichung, während etwa 150 weitere noch überprüft wurden. «Der einzige Unterschied war, dass oben auf den Artikeln nur das Forschungsteam stand – z.B. «Die CMS-Kollaboration» –, aber keine Namen von Physikern.
Doktoranden ohne Jobchancen: «Für die Wissenschaft war das ein riesiges Problem, denn in den Autorenlisten steht, wer was in den Projekten gemacht hat», erklärt Brendan Regnery, Doktorand an der Universität von Kalifornien, der seine Doktorarbeit am Cern fertigstellt. «Für mich, der sich am Ende seiner Doktorarbeit befindet, war es schwierig, mich um Arbeitsstellen zu bewerben, ohne Artikel vorlegen zu können, in denen mein Name erwähnt wird.»
Identifikationscode als Lösung: Ende Februar nun wurde eine Lösung gefunden. «Das Problem lag nicht bei den Personen selbst», betont Wells. Ihrer Meinung nach wurde keiner der etwa tausend russischen Wissenschaftler, die am Cern tätig sind (etwa acht Prozent der Gesamtzahl), von einem seiner Kollegen persönlich als Vorwand genommen, um nicht mit ihm zusammen zu unterzeichnen. «Der Stein des Anstosses lag auf der Ebene der Institutionen». So erläutert die Forschungsleiterin: «Wir haben beschlossen, einerseits die vollständige Liste der Autoren zu veröffentlichen, wobei ihre Namen mit einem persönlichen Identifikationscode namens Orcid versehen sind.»
Forscher werden wieder sichtbar: Nicht alle konnten sich sofort mit der Orcid-Lösung anfreunden. Laut Pippa Wells «fand sie zunächst keine einhellige Zustimmung, dann aber eine recht grosse Mehrheit.» Mit Orcid werden die Forscher aus der Ukraine und anderen Ländern in den Medien wieder sichtbar. Und die Institutionen können sich die finanzielle Unterstützung für die Forschung, die sie gewährt haben, wieder anrechnen lassen. «Ich bin sehr zufrieden mit der gewählten Lösung», sagt Tetiana Hryn'ova. Es ist die bevorzugte Lösung für die ukrainische Gemeinschaft am Cern.»