Rund 25'000 Personen zahlen im Tessin ihre Krankenkassenprämien nicht. Eigentlich sollten die Gemeinden ihre Bewohnerinnen und Bewohner anzeigen, wenn sie nicht zahlen. Das will der neue Paragraf des Tessiner Staatsrats, des Consiglio di Stato.
Konkret heisst das: Erscheint ein säumiger Zahlender nicht bei der zuständigen Gemeinde für das gemeinsame, lösungsorientierte Gespräch, muss die Gemeinde bei der Staatsanwaltschaft eine Anzeige machen; es droht eine Busse.
Sozialvorsteher wehren sich
Gegen den neuen Paragrafen gibt es Widerstand. Der Widerstand kommt von denen, die den streitbaren neuen Paragrafen im Tessiner Krankenkassenreglement umsetzen müssen. Für Lorenzo Quadri von der Rechtspartei Lega dei Ticinesi geht das zu weit. Quadri ist in der Stadt Lugano zuständig für das Soziale.
Komplett falsch sei das, findet Quadri, und mit ihm viele andere Sozialvorsteher von Tessiner Gemeinden. «Diese Lösung, die der Consiglio di Stato vorschlägt, finde ich nicht zielführend. Mit Strafanzeigen kriminalisiert man Leute, die kein Geld haben, um die Krankenkassenprämien zu bezahlen.»
Zudem würde die Verschärfung die Aktenberge auf den Tischen der Strafuntersuchungsbehörden vergrössern. «Entweder wird die Staatsanwaltschaft einfach nicht reagieren, weil zu viele Anzeigen kommen, und sie keine Zeit hat, diese zu behandeln. Oder die Leute werden zu einer Busse verurteilt, die sie nicht bezahlen können», sagt Quadri.
Diese Verschärfung führe zu einem schlechteren Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Staat. Diese Meinung teilen viele Tessiner Behördenvertreter. Sie weigern sich deshalb, das neue Reglement umzusetzen.
Das Reglement beschäftigt mittlerweile auch Politiker und Politikerinnen und sorgt dementsprechend für parlamentarische Vorstösse. Weil der parlamentarische Prozess am Laufen ist, nimmt die Tessiner Regierung nicht offiziell Stellung.
Nur so viel: Man suche den Dialog mit den Gemeinden. Es sei ja auch im Interesse der Gemeinden, dass die ausstehenden Prämien im Wert von jährlich 20 Millionen Franken bezahlt würden. Denn wenn nicht, müsste die öffentliche Hand diese Millionen zahlen. Ob die Regierung auf ihre Bussenpraxis verzichtet, lässt sie offen.
Politische Kursänderung statt Bussenpolitik
Auch der Krankenkassenverband Santésuisse zweifelt an der härteren Gangart. Nicht bezahlte Prämien seien zwar ein grosses Problem für die Krankenversicherer, sagt Sprecherin Irit Mandel. «Allerdings bezweifeln wir, dass Bussen oder schwarze Listen die gewünschte Wirkung erzielen. Viel wichtiger ist es, die Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen. Zum Beispiel sollten die viel zu hohen Medikamentenpreise oder die überhöhten Labortarife gesenkt werden, damit die Prämien nicht weiter steigen.»
Bussenpolitik also bringe viel weniger als politische Kursänderungen, findet der Verband. Hier hat die Tessiner Regierung kürzlich einen Pflock eingeschlagen; sie hat die Zulassung für ambulante Ärzte beschränkt.
Ihr Bussenreglement für säumige Prämienzahler aber scheint toter Buchstabe zu bleiben. Ein Reglement, das es in keinem anderen Kanton gibt und das es gemäss der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen auch nicht braucht. Diese schreibt auf Anfrage von SRF, dass die geltenden Rahmenbedingungen für den Umgang mit säumigen Prämienzahlenden grundsätzlich ausreichen sollten.