«Es ist ein Scherbenhaufen», bilanziert der Aargauer Kirchenratspräsident Christoph Weber-Berg. Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) ist im Krisenmodus. Präsident Gottfried Locher trat Ende Mai zurück, nachdem Medien berichtet hatten, dass ihm von einer ehemaligen Angestellten «Grenzverletzungen» vorgeworfen werden. Die EKS hielt fest: «Der Sachverhalt ist nicht erstellt oder erhärtet und wird nun erst abgeklärt.»
Zu den Hintergründen schwieg die Kirchenleitung. Für Weber-Berg hat die Exekutive der EKS, der Rat, in der Krisenkommunikation versagt. «Der Rat hat Nebelpetarden geworfen und gemauert. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Leitung die Sache vertuscht.»
Gegen Aufklärung gesträubt
Diese Kritik gilt auch Esther Gaillard. Sie ist Vizepräsidentin und Mitglied der Kirchenleitung, des Rates. Gegenüber der «Rundschau» spricht sie erstmals und wehrt sich. Nicht der Rat habe die Sache vertuschen wollen, sondern der Präsident. Bereits in der ersten Sitzung zum Thema sei Locher mit seiner Anwältin erschienen, diese habe Ratsmitgliedern mit Konsequenzen gedroht. «Wir durften nicht mehr kommunizieren.»
Gaillard hatte mit der Beschwerdeführerin gesprochen. «Was die Frau erzählt hat, hat mich erschüttert. Ich wusste: Jetzt muss etwas geschehen.» Aber Locher habe sich gegen eine Aufklärung der Vorwürfe gesträubt. Stattdessen habe seine Anwältin vorgeschlagen, eine Aussprache mit der Beschwerdeführerin zu suchen – ohne dass deren Vorwürfe untersucht würden.
Weitere Vorwürfe
Inzwischen wurde bekannt, dass sechs weitere Frauen Gottfried Locher «Grenzverletzungen» vorwerfen. Die Kirchenrätin Catherine Berger hat ihnen zugehört. Details will sie nicht erzählen, aber sie beschreibt das Muster. «Wenn ein Amt oder ein Seelsorgeverhältnis dazu benutzt wird, eine Beziehung entstehen zu lassen oder aufrechtzuerhalten, kommt es zu einem Machtgefälle – und da wird ein Verhalten zur Grenzverletzung.» Solche Vorwürfe seien auf dem Tisch.
Gottfried Locher nimmt auf Anfrage nicht Stellung zu den Vorwürfen aber schreibt der «Rundschau», er sei zurückgetreten, um die Arbeit der EKS nicht durch Diskussionen um seine Person zu erschweren. Und: «Ich möchte festhalten, dass weder ein zivil- noch ein strafrechtliches Verfahren gegen mich läuft.»
Vorwürfe gegen Beschwerdeführerinnen
Vehement verteidigt ihn Pfarrer Josef Hochstrasser. Dieser hat 2016 ein Buch über Locher geschrieben. Dort machte Locher Aussagen zu Sex und Prostitution, die Kritik auslösten. Die aktuellen Vorwürfe kämen aus derselben Ecke, sagt Hochstrasser.
«Ich sehe da Feministinnen, die es nicht ertragen, dass ein Mann an der Spitze der Kirche ist – und dass er auch noch gut ist und gut aussieht.» Dazu gesellten sich Moralisten, die bei jeder Verfehlung den Zeigefinger erhöben. Für Hochstrasser ist klar: Locher ist Opfer eines Komplotts.
Diesen Vorwurf weist Catherine Berger zurück: Es seien sehr verschiedene Frauen mit ganz unterschiedlichen Geschichten. «Ich sehe keinen gemeinsamen Nenner. Das ist nicht orchestriert, auf keinen Fall.»