Die erste Frau an der Spitze der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) wurde schon von ihrem Amtsantritt deutlich. Im «Blick» widersprach Yvonne Gilli Anfang Januar den Bundesräten Guy Parmelin und Alain Berset, die sich von der Heftigkeit der zweiten Welle überrascht gezeigt hatten.
«Jede medizinische Fachperson hat das gewusst. Das sind schlicht naturwissenschaftliche Prinzipien, ein erneuter Anstieg war absolut absehbar», sagte Gilli damals.
Nun tritt sie ihr Amt beim FMH an. Sie beginne nicht gerne mit Kritik, sagt Gilli im «Tagesgespräch» von Radio SRF. Aber: «Beim BAG fehlt die ärztliche Expertise.» Die oberste Ärztin des Landes führt die Verzögerungen bei der Impfkampagne auch darauf zurück, dass zu wenig auf die Praktiker gehört wurde.
Zu wenig gehört, zu wenig einbezogen
Bei den Impfungen müssten nicht nur theoretische Fragen beantwortet werden, so Gilli. «Wo werden die Menschen geimpft, wer ist befähigt, sie zu impfen und wie soll es logistisch gelöst werden?» Hier brauche es die Ärztinnen und Ärzte. «Sie werden aber immer wieder vergessen.»
Ein Reizthema betrifft auch die Praktiker selbst: Sollen Pflegende und Ärzteschaft zur Covid-Impfung verpflichtet werden? Immerhin sind sie in Spitälern, Pflege- und Altenheimen täglich in Kontakt mit besonders gefährdeten Menschen. Zudem strapazieren coronabedingte Ausfälle und Quarantänen die angespannte Personalsituation weiter.
Eine Impfpflicht braucht es für Gilli trotzdem nicht. «Die letzten Umfragen zeigen, dass mit dem konkreteren Zugang zu einem wirksamen Impfstoff auch die Nachfrage steigt.» Wichtig sei, dass das Gesundheitspersonal, das in engem Patientenkontakt stehe, priorisiert geimpft werde.
Impfskepsis in der Ärzteschaft?
«Jeder vierte Arzt will sich nicht impfen lassen», war zuletzt in den Medien zu lesen. Die Zahlen beruhten auf einer Umfrage unter der deutschen Ärzteschaft, sagt Gilli – und wundert sich über den medialen Dreh des Ergebnisses: «Die Umfrage zeigte das umgekehrte Resultat: Ärztinnen und Ärzte wollen sich im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich impfen lassen.»
Die Impfung sei völlig unumstritten und ein wichtiger Baustein, um die Pandemie zu bewältigen, so Gilli weiter. Die ärztliche Verantwortung sei es aber, die Patienten nach aktuellem Wissensstand über eine Impfung aufzuklären. Dazu gehöre eine individuell zugeschnittene Beratung. «Es geht darum, den Patienten zu einer selbständigen Entscheidung zu befähigen.»
Es gibt zunehmend Warnrufe aus der Ärzteschaft, die auf die Schattenseiten der einschränkenden Massnahmen aufmerksam machen. Es gibt Menschen, die sehr stark leiden.
Das Rezept der Medizinerin für den Weg aus der Krise: «Hoffnung, Ressourcen und das Wissen der Wissenschaft.» Dass Gilli das Wort «Hoffnung» herausstreicht, ist kein Zufall. Sie hat selbst im psychotherapeutischen Bereich gearbeitet und weiss um die fatalen Auswirkungen der Coronakrise.
Eine aktuelle Umfrage der Covid-Taskforce des Bundes zeigt, dass die Zahl der Menschen, die unter starken depressiven Symptomen leiden, im Vergleich mit dem ersten Shutdown stark gestiegen ist.
Gilli bestätigt das Verdikt aus der Praxis: «Es gibt zunehmend Warnrufe aus der Ärzteschaft, die auf die Schattenseiten der einschränkenden Massnahmen aufmerksam machen.»
Den Menschen müsse die Gewissheit vermittelt werden: Die Pandemie geht vorbei, und wir werden sie bewältigen. Es brauche in der Schweiz aber dringend mehr Psychiater, so Gilli. Besonders fehle es an Jugend-Psychiatern. Auch das sei eine Lehre aus der Pandemie.