Weshalb die Schweiz zu einem europäischen Hotspot der Corona-Pandemie geworden ist, interessiert die Menschen über die Landesgrenzen hinaus. Der Schweizer Historiker und Politikwissenschafter Joseph de Weck hat darüber vergangene Woche einen viel beachteten Artikel im renommierten US-Magazin «Foreign Policy» geschrieben. Er geht davon aus, dass Aussagen wie jene von Ueli Maurer in Frankreich zu einem Rücktritt führen würden.
SRF News: Ihr Artikel ist aktuell einer der meistgelesenen im Magazin «Foreign Policy». Könnte das auch mit dem etwas reisserischen Titel «Switzerland Is Choosing Austerity Over Life» – also sinngemäss «Die Schweiz stellt Sparsamkeit vor Menschenleben» – zu tun haben?
Joseph de Weck: Bei amerikanischen Magazinen ist der Titel in der Kompetenz des Herausgebers. Darauf habe ich keinen Einfluss. Er ist natürlich ein bisschen provokant, aber er bringt die Sache schon auf den Punkt. In der Schweiz führt man diese Debatte über die Kosten der Krise. Doch diese Debatte führt man in anderen Ländern – in Frankreich oder Deutschland – nicht in diesem Sinne.
Wie unterscheidet sich die Debatte in Frankreich von jener in der Schweiz?
Ursprünglich waren die Unterschiede nicht wahnsinnig gross. Die Schweiz hat den Sommer über das Land wieder geöffnet. Frankreich und Deutschland auch, die Schweiz einfach viel aggressiver. Die Strategie in Paris und Berlin war, dass man die Zahlen etwas ansteigen lässt und dann eine Balance herstellt zwischen einer Öffnung des öffentlichen Lebens und gleichzeitig einer erhöhten Zahl von Infizierten, die dann irgendwann stabil werden sollte.
Für die Schweiz ist es vollkommen in Ordnung, eine Debatte über eine vermeintliche Güterabwägung zwischen Gesundheit und Geld zu führen.
Der Unterschied zur Schweiz ist, dass die Franzosen und die Deutschen irgendwann kapiert haben, dass sie es nicht hinkriegen, die Zahlen stabil zu halten, sondern dass sie dabei sind, in eine exponentielle Steigerung hinein schlafzuwandeln. Dann haben sie einen Kurswechsel vollzogen.
Das war schwierig, denn für die Politiker ist das immer auch ein Eingeständnis ihres eigenen Scheiterns. Aber sie haben es getan, denn wenn man so weitermacht, bringt man die Kapazitäten im Gesundheitssektor an die Grenzen und überträgt ihnen die Verantwortung über Leben und Tod. In der Schweiz hat man diesen Wechsel später, wenn überhaupt, vollzogen.
Worauf führen Sie es zurück, dass die Schweiz zögerlicher unterwegs ist?
Ich verwende immer dieses Beispiel von dem Satz von Herrn Ueli Maurer, dass die Schweiz sich keinen zweiten Lockdown leisten könne. Wenn man diesen Satz einem Franzosen erklärt, erntet man nur Kopfschütteln. Wenn ein französischer Minister so einen Satz sagen würde, müsste er sehr wahrscheinlich ein paar Stunden später zurücktreten. Aber er zeigt, dass es für die Schweiz vollkommen in Ordnung ist, eine Debatte über eine vermeintliche Güterabwägung zwischen Gesundheit und Geld zu führen.
Die Frage ist nicht, ob sich die Schweiz das leisten kann, sondern ob sie sich das leisten will.
Der Satz ist zudem erstaunlich, weil er inhaltlich einfach falsch ist. Die Zinsen auf Schweizer Staatsanleihen sind im negativen Bereich. Die Finanzmärkte sind sogar bereit, der Schweiz Geld zu zahlen, damit sie sich verschuldet. Der Schuldenstand des Bundes liegt bei 40 Prozent. Das ist für eine entwickelte Wirtschaft extrem tief. Die Frage ist nicht, ob sich die Schweiz das leisten kann, sondern ob sie sich das leisten will. In Frankreich ist es klar, dass es die Aufgabe des Staates sein muss, das Leben der Bürger zu schützen, und dass Überlegungen zum Staatshaushalt in so einer Krise nachrangig sind.
Das Gespräch führte Roger Aebli.