Sexuelle Belästigung von Angestellten in Gesundheitsberufen kommt häufig vor. Ungefähr jede zehnte sei betroffen, sagt eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Eine hohe Dunkelziffer gibt es beispielsweise im Tessin. Denn bisher ist dort keine einzige Anzeige eingegangen. Der Berufsverband der Pflegefachfrauen versucht daher, Betroffene mit Kursen zu sensibilisieren.
Kursleiter und Psychologe Vincenzo Santoro sagt, die übergriffigen Täter kämen aus allen sozialen Schichten und aus allen Altersgruppen. Deren Übergriffen besonders ausgesetzt seien Spitex-Mitarbeiterinnen, die alleine zu den Patienten nach Hause gingen. «Die Täter profitieren von der Nähe, die automatisch entsteht, weil sie alleine sind mit den Frauen», erklärt er.
Angst vor Mobbing und Schuldzuweisungen
«Zuerst trinken sie nur einen Kaffee zusammen. Daraus kann dann aber ein Übergriff werden.» Die Schwierigkeit ist, dass die betroffenen Frauen keine Anzeige erstatten, aus Angst, dass sie sich selber schaden. Denn häufig heisst es, sie seien selber schuld. Es kommt auch vor, dass sie gemobbt werden oder die Arbeit verlieren. Schweizweit habe es darum in den letzten Jahren nur sehr wenige Anzeigen von Pflegefachfrauen gegeben, sagt André Wagner, der Leiter des Rechtsdienstes beim Verband der Pflegefachfrauen.
Dass im Tessin bis heute keine einzige Anzeige gemacht wurde, sei kaum ein Zufall, sagt Santoro. «Das Tessin ist ein wenig von der italienischen Kultur geprägt. Vorherrschend ist dort die patriarchale Kultur. Die Frau wird als schutzbedürftiges Wesen gesehen. In diesem System ist sie dem Beschützer mit seinen machistischen Machtgelüsten einfach ausgeliefert.» Santoro weiss, dass er sich mit solchen Aussagen auch Kritik einfangen kann.
Sexualität für die katholische Kirche ein Tabu
Er betont darum, dass es natürlich nur ein sehr kleiner Teil der Patienten ist, der zu Tätern wird. Diesen kleinen Teil aber dürfe die Gesellschaft nicht tabuisieren. Er ist überzeugt: Erst, wenn die Gesellschaft anfängt, über die vorherrschenden Machtstrukturen zu sprechen und diese zu hinterfragen, kann diese sie auch durchbrechen. Das sei umso schwieriger in einer Kultur, die stark geprägt ist vom Katholizismus, sagt Santoro weiter.
«Für die Kirche ist die Sexualität ein Tabu. Sie ist Privatsache. Gibt es in der Sexualität Probleme, wird darüber nicht gesprochen.» In diesem Klima des Schweigens gebe es kaum Raum für Anzeigen, so Santoro. Darum brauche es Kurse, die es den Pflegenden ermöglichen, das Schweigen zu durchbrechen.