Noch rasch einen Einkaufszettel oder eine E-Mail schreiben – was nach einer alltäglichen Handlung tönt, ist für viele Menschen ein Krampf. Auch für die 60-jährige Erika Kleist aus Biel.
Sie sitzt im Esszimmer ihrer Wohnung in Biel und beugt sich über eine Trauerkarte. Es fällt ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. Nicht nur, weil der Anlass emotional ist. Kleist fällt auch das Schreiben an sich schwer. «Wenn ich gar nicht weiter weiss, hole ich mir Hilfe im Internet», sagt sie.
Oder sie sucht sich Inspiration in Texten von anderen: «Ich sammle Karten, die ich von anderen bekomme, und wenn besonders schöne Dinge draufstehen, übernehme ich manchmal Sätze.»
Schon in der Schulzeit hat Erika Kleist gelernt, ihre Schreibschwäche zu vertuschen. Bis sie acht war, lebte sie mit ihren Eltern in Chile und sprach nur Spanisch. Als sie dann in die Schweiz kam, lernte sie zuerst Schweizerdeutsch. Dann – beim Schreiben – kam Hochdeutsch dazu. Damit tat sie sich von Anfang an schwer.
Schreibschwäche blieb lange unbemerkt
Die Schülerin kam in eine Hilfsklasse, aber spezielle Schreibunterstützung erhielt sie nicht. Sie musste sich selbst helfen – zum Beispiel mit Auswendiglernen: «Wenn ich ein Diktat vorbereiten konnte, hatte ich immer einen Sechser», sagt sie. «Aber bei unvorbereiteten Übungen hagelte es Zweier.»
Weil sie nicht durchgehend schlechte Noten hatte, bemerkte ihre Schreibschwäche niemand. Sie selbst realisierte erst in der Ausbildung zur Pflegefachfrau, wie sehr sie mit den Buchstaben zu kämpfen hat. Besonders das Schreiben vor anderen hat sie in schlimmer Erinnerung: «Wenn es darum ging, an der Tafel zu schreiben, versuchte ich ja nicht aufzufallen, und wenn ich dann doch mal nach vorne musste, schwitzte ich Blut.»
Über viele Jahre wurde sie nie auf ihre Schreibschwäche angesprochen. Bis ein Kollege eine Arbeit von ihr korrigierte und sagte: «Läck Erika, du machst aber viele Schreibfehler.» Ab da habe sie sich für jedes Wort geschämt.
Gleichzeitig konnte sie – jetzt, da jemand ihre Schwäche ausgesprochen hatte – endlich handeln. Sie nahm Lese- und Schreibkurse und tauschte sich mit anderen Betroffenen aus.
Offener Austausch ist hilfreich
Dennoch: Das Schreiben bereitet ihr bis heute Mühe, vor allem bei der Arbeit. Aber sie hadert nicht mehr mit ihrem Schreibstil. Und sie steht offen zu ihrer Schwäche: «Es gibt immer noch Dinge, die ich falsch schreibe, aber für mich geht die Welt nicht unter, wenn andere das erfahren.»
Bevor ich offen darüber sprechen konnte, habe ich wirklich gelitten.
Erika Kleist findet es wichtig, dass die Gesellschaft weiss, wie viele Menschen betroffen sind. Weil: «Bevor ich offen darüber sprechen konnte, habe ich wirklich gelitten». Darum gibt sie ihre Erfahrungen heute an andere weiter, hört jenen zu, die wie sie mit den Buchstaben kämpfen.