Das Motto des Neuenburger Radiotages lautete: «Das Radio – derart glaubwürdig!» Man kann die Behauptung als selbstbewusst empfinden oder als Provokation, die es zu hinterfragen gilt. Aus der Luft gegriffen ist die Aussage nicht, sagt Mediensoziologe Jean-Marie Charon.
Seit Jahren verfüge das Radio, besonders das öffentlich-rechtliche, über die höchste Glaubwürdigkeit unter allen Medien. Bloss: Die Unterschiede zu den anderen Medien, zu Zeitungen oder Fernsehen, sind nicht riesig.
Radio gilt als nicht abgehoben
Der Fall Frankreich zeigt, dass neuerdings auch das Radio taucht. Für das Radio spricht gemäss der Forschungsarbeiten, die Charon zurzeit im Zusammenhang mit der Medienfeindlichkeit der französischen Gelbwesten-Bewegung anstellt, dass es als Medium der Nähe gesehen werde.
Fernsehen und Zeitungen indes würden viel stärker mit teuren Studios, grossen Redaktionen und den politischen Eliten in Verbindung gebracht.
Haben Nicht-Nutzer Vorurteile?
Das zeigt: Verlierer in der Gesellschaft mit Groll gegen die politische Führung oder Entwicklungen wie die Globalisierung, projizieren das auch auf die Medien. Hinzu kommt: Wer ein Medium – nicht nur das Radio – tatsächlich nutzt, billigt ihm eine höhere Glaubwürdigkeit zu als die Nicht-Nutzer.
Das lässt zwei Interpretationen zu: Entweder haben Medienverweigerer negative Vorurteile. Oder sie verzichten auf den Konsum klassischer Medien aufgrund schlechter Erfahrungen. Um ihren Bedarf an Information zu stillen, nutzen bloss noch fünf Prozent der 15- bis 25-Jährigen das Radio. Noch weniger sind es bei den Zeitungen, etwas mehr beim Fernsehen.
Politiker umgehen klassische Medien
Die Jungen sind auf Youtube, Instagram oder Facebook. Sie geben diesen zwar miserable Glaubwürdigkeitsnoten, bleiben aber trotzdem auf diesen Kanälen. Für den Soziologen ist es ein Problem, dass ausgerechnet Politiker unabhängige Medien umgehen, wenn sie den direkten Kontakt zu den Bürgern suchen.
Zurzeit fliesst in vielen Ländern denn auch sehr viel Geld in den Aufbau paralleler und vor allem abhängiger Medien. Diese Politikerinnen und Politiker, aber auch Firmen spielten mit dem Feuer, so Charon. Sie glauben offenbar, Demokratie gehe auch ohne unabhängige Medien. Vertreter der politischen Extreme seien sogar überzeugt davon, dass es solche gar nicht brauche.
Es geht nicht nur um Fakten
Wenn es ihnen gelingt, die Rolle freier Medien auszuhöhlen, sei ein grosser Schritt zur de-facto-Abschaffung der Demokratie getan, sagt Charon. Populisten und Extremisten sorgen deshalb etwa mit Shitstorms dafür, kleinste Fehler von Medien zum grossen Debakel aufzubauschen.
Was können die Medien dagegen tun? Charon sagt, dass sie zunächst Fehler vermeiden müssten. Dann Fakten überprüfen, und dies öffentlich machen. Allerdings: Viele Mediennutzer seien unempfänglich fürs «Factchecking».
Es gehe ihnen gar nicht um Fakten. Sie lehnen Journalisten nicht ab, wegen dem, was diese sagen. Sondern wegen dem, was sie sind – nämlich Angehörige einer verachteten intellektuellen Elite. Schliesslich müssten die Medien selber immer wieder Medienausbildung betreiben; erklären, was sie tun, und warum. Viel mehr sei nicht möglich, glaubt Charon. Und er hat Zweifel, ob das reicht, um die verlorene Glaubwürdigkeit zurückzuerobern.