In den Jahren 2020 und 2021 sind deutlich mehr Menschen verstorben, als zu erwarten war. Die Übersterblichkeit ist um einiges höher als die offiziell gemeldeten Todeszahlen, sie ist fast dreimal so hoch. Das zeigt eine neue Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO in der Fachzeitschrift «Nature». Marcel Zwahlen ist Epidemiologe an der Universität Bern und hat die Übersterblichkeit während der Pandemie in der Schweiz untersucht.
SRF News: Was kann man daraus schliessen, dass die Übersterblichkeit weltweit dreimal so hoch ist wie Anzahl Personen, die offiziell an Corona gestorben sind?
Marcel Zwahlen: Entweder bestanden Schwierigkeiten, weltweit die an Corona Verstorbenen oder die mit einer Corona-Infektion Verstorbenen zu erfassen, weil es ja einen PCR-Test brauchte. Das war nicht überall gewährleistet. Oder es hat noch zusätzliche Kollateralschäden durch die Pandemie gegeben. Das halte ich für eher unwahrscheinlich.
Sie glauben, dass diese zehn Millionen Todesfälle, die man nicht durch die offiziellen Corona-Todeszahlen erklären kann, trotzdem an Corona gestorben sind?
Ja. Das hängt damit zusammen, wie versucht wurde, die Corona-Toten zu berechnen. Man nimmt die Entwicklung der Sterbefälle in den Jahren 2016 bis 2019. Wenn man den historischen Trend und die Saisonalität für die Jahre 16 bis 19 errechnet und den weiterzieht, mit dem Argument, das hätten wir erwartet, wenn Corona nicht gekommen wäre, dann kommt man auf diese Übersterblichkeit.
Von März bis Juni, Juli 2020 gab es in vielen Ländern strikte Lockdowns. Damals hatten wir sogar eine Untersterblichkeit.
Wir sehen sonst nichts, was zusätzlich anders gewesen sein sollte. In den frühen Monaten von März bis Juli 2020 gab es in vielen Ländern strikte Lockdowns. Damals hatten wir sogar eine Untersterblichkeit. Ganz viele Todesfälle wurden im Strassenverkehr verhindert.
Ist es realistisch, dass die Welt die Corona-Toten um Faktor drei unterschätzt?
Ich glaube schon. Es war nur ein kleiner Ausschnitt von denen, die schwere Krankheitsverläufe hatten und auch noch einen PCR-Test haben konnten.
Auch bei uns sind einige Personen in den Pflegeheimen gestorben, die zu Beginn nicht als Corona-Todesfälle registriert wurden.
Auch in den reichen Ländern hatten wir ganz am Anfang zu wenig Tests, auch bei uns sind einige Personen in den Pflegeheimen gestorben, die zu Beginn nicht als Corona-Todesfälle registriert wurden, weil sie gar nicht getestet worden sind. Die Meldevorschriften wurden auch in der Schweiz nicht immer eingehalten.
Die Weltgesundheitsorganisation schlüsselt die Sterberaten nach Einkommen in den entsprechenden Ländern auf. Man sieht, dass die Diskrepanz zwischen offiziellen Todeszahlen und Übersterblichkeit in Ländern mit mittlerem Einkommen am grössten ist. Warum sollen ausgerechnet die Länder mit mittlerem Einkommen die Corona-Todeszahlen am schlechtesten schätzen?
Ein Punkt ist auch, dass ärmere Weltregionen eine jüngere Bevölkerungsstruktur haben. Selbst wenn sie schlecht zählen, haben sie gar nicht so viele Auswirkungen auf die Übersterblichkeit gehabt. Wenn sie nur wenig 60-Jährige und älter haben in ihrer Gesamtbevölkerung und Zweidrittel unter 30 sind, dann sieht man auch gar nicht viel Übersterblichkeit, viel weniger als in den reicheren europäischen Ländern mit eben 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, die 65 oder älter ist.
Die Länder mit mittleren Einkommen haben auch schon beträchtliche Teile der Bevölkerung, die älter sind.
Die Länder mit mittleren Einkommen haben auch schon beträchtliche Teile der Bevölkerung, die älter sind. Das heisst, die Übersterblichkeit hat sich bei denen stärker gezeigt, aber ihre Meldesysteme waren auch nicht top. Das heisst, auch sie unterzählen die Corona-Todesfälle.
Das Gespräch führte Sandro Della Torre.