Ein Regime, das bei den Athletinnen Angst- und Essstörungen verursacht: Die Berichte über die Trainingsmethoden am Schweizer Sportzentrum in Magglingen, welche Tamedia im Oktober veröffentlichte, rüttelten auf. Die Politik suchte nach Lösungen für diesen Missstand – mit einer unabhängigen Meldestelle, wie sie der Ständerat inzwischen gutgeheissen hat. Die frühere Kunstturnerin Ariella Kaeslin hatte schon im Sommer eine solche gefordert.
Urs Leuthard: Geht es um Missbrauch im Sport, um unmenschliche Trainingsbedingungen, ist fast immer vom Kunstturnen die Rede. Warum?
Ariella Kaeslin: Ein wichtiger Faktor ist, dass es eine Kindersportart ist. Ein 12-jähriges Mädchen oder ein Junge kann noch nicht differenzieren, ob das ein adäquater, respektvoller Umgang ist, und wenn nicht, was das für Konsequenzen haben kann. Ich habe jeden Tag gehört, wie dick und dumm ich sei. Ich dachte, das ist so in diesem Sport, und ich hatte mich fast schon daran gewöhnt. Ich konnte die Konsequenzen noch nicht abschätzen. Wenn man zum Beispiel eine Essstörung entwickelt, kann einen das auch nach der Karriere noch begleiten und die eigene Lebensqualität mindern.
War das ein Thema bei Ihnen, die Essstörung?
Ja, das war ein grosses Thema bei mir.
Turnerinnen seien erniedrigt und beleidigt worden, psychische und physische Gewalt wurde ausgeübt. Ist das übertrieben oder stimmt das?
Jede Turnerin erlebt das natürlich anders, aber ich würde schon sagen, dass das stimmt. Es wurde ein permanenter Psychoterror betrieben. Wenn man sich wehren wollte, kam es immer wieder auf mich als Athletin zurück. Als Athletin hast du schnell gemerkt: Ich sage am besten nichts, weil man sonst sanktioniert wird. Du wirst aus dem Kader geworfen oder im Training bestraft.
Es wurde ein permanenter Psychoterror betrieben.
2015 haben Sie ein Buch publiziert, in dem Sie viele der erniedrigenden Trainingsmethoden beschrieben. Wieso ist trotzdem nichts passiert?
Es hat wohl einfach noch nicht gereicht. Aber jetzt passiert etwas. Es wäre ein wichtiger erster Schritt, wenn von der Politik ein Zeichen kommt. Die Schaffung einer unabhängigen Meldestelle wäre aber noch nicht genug.
Es braucht allgemein einen Kulturwandel. Es muss ein Umdenken stattfinden, bei Swiss Olympic und beim Schweizerischen Turnverband, aber auch in der Trainerausbildung braucht es eine Sensibilisierung. Und ich finde es auch wichtig, dass man die Athleten und die Eltern einbezieht.
Das ist alles nicht passiert?
Es ist ja schon ein super Schritt, dass man realisiert, dass etwas falsch gelaufen ist. Ich habe damals gehört: ‹Jetzt tu doch nicht so, wenn du diese Methoden nicht aushalten kannst, musst du nicht Spitzensport betreiben.› Jetzt ist das Bewusstsein da, dass es auch im Spitzensport Grenzen gibt.
Sie schrieben über die Zeit nach dem Rücktritt: «Wenn ich einen Knopf hätte drücken können und dann tot gewesen wäre, hätte ich ihn gedrückt.» Sie hatten eine Depression; auch wegen Ihrer Erlebnisse in Magglingen?
Nicht nur, aber es hat schon auch dazu beigetragen, dass ich Suizidgedanken hatte. Ein wichtiger Grund war, dass ich mit dem Rücktritt die ganze Identität als Kunstturnerin verloren hatte. Aber diese destruktiven Denk- und Handlungsmuster, die mir damals als Kunstturnerin in der Pubertät eingetrichtert wurden, haben sicher dazu geführt, dass ich so weit kam.
Der Sport ist immer noch ein sehr grosser Teil meines Lebens.
Wie geht es Ihnen heute?
Mir geht es sehr gut, ich bin im Physiotherapie-Studium und stehe wieder voll im Leben. Ich suche sicher noch ein wenig meine Identität, aber ich bin glücklich, und der Sport ist immer noch ein sehr grosser Teil meines Lebens.
Das Gespräch führte Urs Leuthard.