Brian Keller ist aus dem Gefängnis raus – wie wird der 28-Jährige in Freiheit klarkommen? Der Gerichtspsychiater Frank Urbaniok sieht einige Schwierigkeiten auf Keller zukommen. Und er ist der Meinung, dass die Schweiz aus dem Fall Lehren ziehen kann. Urbaniok hatte nie direkt mit dem Fall zu tun, hat den Fall die letzten Jahre jedoch verfolgt und wurde auch um Rat gebeten.
SRF News: Was sind Ihre ersten Gedanken als informierter Beobachter zur Freilassung?
Frank Urbaniok: Das Gericht stand vor einer schwierigen Entscheidung und hat einen guten Kompromiss gefunden. Brian Keller hat Delikte in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies begangen. Das Urteil ist ein wichtiges Signal, auch für die Mitarbeitenden. Denn es handelt sich da nicht um einen rechtsfreien Raum. Aber es ist rechtlich so klassifiziert worden, dass jetzt zügig eine Entlassung erfolgen konnte. Es wird eine Perspektive aufgezeigt in einer Situation, in der es keine perfekte Lösung gibt. Es ist die Wahl des vermeintlich kleinsten Übels.
Brian Keller kommt mit 28 Jahren aus der Sicherheitshaft direkt in die Freiheit. Wie schwierig ist dieser Schritt?
Es ist immer eine schlechtere Ausgangsposition, wenn jemand von null auf hundert direkt in Freiheit ist. So fällt die Möglichkeit weg, eine Person über Lockerungen, Urlaub oder mehr Belastung daran zu gewöhnen und bei Bedarf zu intervenieren.
Brian Keller wird ein Sozialpädagoge zur Seite gestellt, der ihn betreut und begleitet. Was heisst das konkret?
So wie ich das verstanden habe, ist die Person fast rund um die Uhr ansprechbar und kann direkte Beratung und Intervention leisten. Man wird sicher bemüht sein, eine gelungene Kombination von Förderung, Unterstützung, aber auch von Forderungen und Grenzen zu verbinden.
Die Nagelprobe wird sein, wie er mit den ganzen Schwierigkeiten, Frustrationen, Rücksetzern umgeht.
Keller war in den letzten Jahren ausschliesslich wegen Vorfällen, die im Gefängnis passiert sind, inhaftiert. Das Gericht hat diese Woche gesagt, man hätte die Spirale durchbrechen müssen. Was könnten andere Lösungen sein?
Es wurde viel probiert, von Spaziergängen bis Therapien. Die Profis im Vollzug überlegen sich permanent, welche Lösungen und Perspektiven es gibt. Zu sagen, dass es andere Lösungen geben muss, klingt gut, aber zu einfach. Man muss dann auch Ross und Reiter nennen und sagen: Was wären die anderen Lösungen gewesen? Und natürlich ist es eskaliert. Aber an der Wurzel des Problems ist eine Person, die gewaltbereit und jederzeit bereit ist, zuzuschlagen, zu bedrohen, Menschen zu attackieren.
Kommt das System an die Grenzen, wenn ein Häftling komplett renitent ist und es ihm egal ist, was man von ihm hält?
Jedes System kommt an die Grenze, wenn sich eine Person konsequent allem verweigert und auch gewalttätig ist. Der Direktor der JVA Pöschwies, Andreas Naegeli, hat das mal ganz gut auf den Punkt gebracht: Wir haben in bestimmten Extremsituationen nicht schon Regeln und vorgefertigte Lösungen. Das ist vielleicht auch der Preis des Rechtsstaates. Wir haben mit dieser problematischen Güterabwägung zu tun.
Es braucht differenzierte Lösungen in der Praxis.
Die Geschichte von Brian Keller polarisiert. Für die einen ist er ein Justizopfer, für die anderen ein gefährlicher Gewalttäter. Ärgert Sie diese Debatte?
Ich finde sie problematisch. Die mediale Berichterstattung und die Inszenierung sind Teil des Problems und sicherlich auch für den Betroffenen nicht leicht. Eine Art Medienstar zu sein erschwert es sicherlich, sich mit den banalen Alltäglichkeiten auseinanderzusetzen. Manche Medienvertreter reagieren dann sehr sensibel darauf, wenn man die exzessive mediale Berichterstattung anspricht.
Wie gross ist das Risiko, dass Brian Keller rückfällig wird? Der Gutachter ist zum Schluss gekommen, dass eine deutliche Rückfallgefahr für Drohungen, Beleidigungen, aber auch für Gewalttaten besteht.
Ich kann das aus der Entfernung nicht begutachten, weil ich das Gutachten nicht gemacht habe. Aber wenn ein Gutachten zu einem erhöhten Rückfallrisiko kommt, ist das ein Befund, den man ganz klar ernst nehmen muss. Wir wissen nicht, wie Brian Keller sich in Freiheit verhält. Aber auf ihn werden grosse Herausforderungen zukommen. Die Nagelprobe wird sein, wie er mit den ganzen Schwierigkeiten, Frustrationen, Rücksetzern umgeht. Ich hoffe, dass er eine ausreichende Stärke und Unterstützung hat, dass es dann nicht wieder kippt.
Welche Lehren muss die Schweiz aus dem Fall Brian ziehen?
Ich würde nie raten, dass man aus Einzelfällen grundsätzliche Lehren zieht. Es ist keine gute Idee, dass man medial sehr stark ausgeleuchtete Fälle als Gradmesser für das Gesamtsystem nimmt. Verschiedene Diskussionen sind berechtigterweise angestossen worden: Wie ist die Güterabwägung zwischen persönlichen Freiheitsrechten? Wie geht man mit gefährlichen Personen um, die riskant sind für das Personal? Es ist gut, dass man das diskutiert und dass man die Gesellschaft dabei mitnimmt. Das sind keine leichten Fragen, die man mit «Ja oder Nein» oder «immer und nie» beantworten kann. Da braucht es differenzierte Lösungen in der Praxis.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.